Offenbar Zusammenhang mit Messertat: Mitbewohner des Opfers seit Mai vermisst

Das Rätsel um den Mord in Harburg und die Leichenteile, die am Dienstag in einem Müllsack hinter dem Harburger Fernbahnhof gefunden wurden, ist noch nicht gelöst. Die Polizei hat auch die Identität des Opfers, dessen Überreste ein 68-Jähriger entdeckt hatte, noch nicht klären können. Ein Zusammenhang mit der Messertat auf dem Bahnhofsvorplatz, die sich wenige Stunden vor dem Leichenfund ereignet hatte, ist aber sehr wahrscheinlich, wenn auch noch nicht zweifelsfrei erwiesen. Es gibt aber deutliche Inidizien: Denn: Das Opfer Orhan Y. hatte einen Mitbewohner, der seit Ende Mai vermisst wird. Ist der Tote der Vermisste? Die Ermittler hoffen, Hinweise vom Betroffenen erhalten zu können. Er wird die zahlreichen Stiche, die er in Hals und Oberkörper erlitten hatte, überleben. Zu einer Aussage gegenüber Polizeibeamten war er gestern indes noch nicht fähig.

Der Müllsack mit den Körperteilen wird weiterhin in der Rechtsmedizin am UKE untersucht. Die Mediziner extrahieren nicht nur die Opfer-DNA. Darüber hinaus hoffen sie, Hinweise auf Personen zu erlangen, die den Körper berührt haben. Ihre Untersuchungen, zum Beispiel zur Beschaffenheit der Wundränder und Schnittkanten, werden später auch Rückschlüsse auf eine eventuelle Tatwaffe ermöglichen.

Polizeisprecher Holger Vehren erklärt die Maßnahmen, die die Polizei in Fällen unbekannter Toter gemeinhin ergreift: "Zuerst suchen wir naheliegenderweise nach Papieren. Wenn es diese nicht gibt, sichern wir den genetischen Fingerabdruck aus dem Gewebe oder, wenn die Leiche schon skelettiert ist, aus dem Knochen. Dann gleichen wir den Datensatz mit den Vermissten- und Verbrecherkarteien ab. Wobei es von Vermissten natürlich nur selten bereits bei der Polizei vorhandene DNA gibt."

Am Dienstagabend waren Polizeibeamte noch einmal in der Wohnung des Niedergestochenen und des Vermissten. Vermutlich beschafften sie sich persönliche Gegenstände des vermissten Ahmet K., zum Beispiel die Zahn- oder Haarbürste. Ziel: Die Gewinnung einer DNA-Vergleichsprobe.

Zweimal innerhalb weniger Stunden war die Mordkommission am Dienstag zum Harburger Bahnhof ausgerückt (wir berichteten). Um 5.30 Uhr fand Esref K., 57, Mitarbeiter des Reinigungsteams am Bahnhof Harburg, den schwer verletzten Ex-Kollegen Orhan Y., 53, in einem Tunnelzugang auf dem Bahnhofsvorplatz. Notärzte retteten das Leben des Mannes, der mit zahlreichen Messerstichen in Hals und Brust übel zugerichtet worden war.

Sieben Stunden später - die Spurensuche im Fall Y. war noch nicht abgeschlossen, meldete ein 68-jähriger Fußgänger den Leichenteil-Fund in weniger als 100 Metern Entfernung. Dort lagen Teile eines männlichen Körpers, verpackt in Plastiktüten, die ihrerseits in einen großen blauen Müllsack gepfercht worden waren. Es sind Teile, die kein Ganzes ergeben. Irgendwo muss die Person, die den Müllsack hier ablegte, weitere Teile deponiert haben.

Während Orhan Y. im Krankenhaus operiert wurde, stellten Kripo-Ermittler bei der Prüfung seiner Personalien Erstaunliches fest: Dass der 53-Jährige nämlich an seiner Wohnadresse in der Stettiner Straße (Buchholz in der Nordheide) gemeinsam mit einem Mann namens Ahmet K. gemeldet ist. Der wiederum gilt seit dem 27. Mai offiziell als vermisst. Wie Orhan Y. war Ahmet K., 50, bis vor Kurzem beim Bahn-Tochterunternehmen "DB Services" angestellt - als Reinigungskraft am Harburger Bahnhof.

Der Mann war am 27. Mai während der Arbeit plötzlich verschollen. Wie vom Erdboden verschluckt, so erinnern sich Kollegen. Was von ihm blieb, war das Telefon, das Portemonnaie und Zigaretten auf dem Tisch des Personal-Umkleideraums. Sein Mitbewohner Orhan Y. ging zur Polizei und gab eine Vermisstenanzeige auf.

Und nun die Leichenteile im Müllsack. Die DNA-Auswertung dauere noch an, hieß es. Gleiches gilt für das Messer, das in der Nähe jenes Ortes gefunden wurde, an dem Orhan Y. gelegen hatte. Es zeigte keine Blutspuren. Mittwochvormittag nahmen Reporterteams die kleine Waldsiedlung an der Stettiner Straße in Beschlag. Kameras schwenkten über das kleine von alten Nadelbäumen gesäumte Vier-Parteien-Haus, in dem Orhan Y. und Ahmet K. wohnen.

Die Anwohner nahmen es gelassen, schauten dem Treiben belustigt zu. Die Fragen wiederholten sich, die Antworten auch. Niemand kannte die beiden Männer aus der Türkei und dem Iran näher.

Die Hoffnung, der Fall werde sich schnell aufklären, ist groß. Erklärungsmuster enden zumeist bei einem unbekannten Dritten, der für das Verschwinden von Ahmet K. und die Verletzung von Orhan Y. zuständig sein könnte. Oder hat der Mann mit den Schnittwunden sich die Verletzungen selbst zugefügt? Aber wo ist dann die Tatwaffe geblieben?

"Ahmet war immer etwas verschlossener als Orhan", erzählt eine Verkäuferin einer Bäckerei am Busbahnhof Harburg. Auch nach seinem krankheitsbedingten Ausscheiden bei dem Reinigungsunternehmen sei Orhan Y. immer wieder nach Harburg gekommen. Allerdings nicht so früh wie zu den Zeiten, als er noch hier beschäftigt war. "Früher kam er meist gegen 5.30 Uhr. In den vergangenen Monaten habe ich ihn nur alle paar Tage gesehen. Er kam immer mittags, trank ab und zu eine Tasse Kaffee."

Dass die beiden Männer zusammengelebt haben, davon wussten die Ex-Kollegen nichts. Orhan Y., so heißt es, habe demnächst zurück in die Türkei gewollt. Zu seiner Frau und den Kindern. Ahmed K. hat keine Familie. Er stammt, wie viele türkischstämmige Zuwanderer im Harburger Raum, aus dem anatolischen Maras. Er ist Single, wie er in einer Internet-Plattform mitteilt. Neben seinen Hobbys (Schach, Musik und Bücher) hat er hier auch seinen Wahlspruch vermerkt: "Die Ehrenhaften müssen genauso tapfer sein wie die Ehrlosen."