Der blutüberströmte Junge hatte sich bei einem Sturz verletzt. Seine Freunde sagten, sie hätten ihn im Wald gefunden.

Hamburg. Die ersten Befunde deuteten ein schreckliches Verbrechen an. Die Polizei löste Großalarm aus, die Mordkommission eilte zum Tatort. Ohne Hose, blutüberströmt und nicht ansprechbar lag ein Zwölfjähriger in der Freitagnacht auf dem Asphalt vor einer Kneipe in Bergedorf. Die Beamten ermittelten fieberhaft in dem scheinbar versuchten Tötungs- und Sexualdelikt. Doch noch in der Nacht gab die Polizei Entwarnung. Die Tat, die an die schrecklichen Übergriffe auf Kassandra in Velbert und Michelle aus Leipzig zu erinnern schien, war mehr oder weniger die "Räuberpistole" einer Gruppe Minderjähriger - die damit von einem nicht ganz glücklich zu Ende gegangenen Saufgelage ablenken wollte.

Sie hätten das blutende Kind ganz in der Nähe gefunden und in die Kneipe Bei Kalle an der Holtenklinker Straße gebracht, erklären die beiden 14 und 16 Jahre alten Teenager den erschrockenen Streifenpolizisten, die gegen 22.30 Uhr von Gästen der Trinkstube gerufen wurden. Beamte suchen daraufhin die Straße Brookdeich ab, finden Blut und einen Schuh. Der Kriminaldauerdienst wird alarmiert, der den Fall an die Mordbereitschaft weitergibt. Polizisten umstellen die angrenzende Kleingartenanlage mit mehr als zehn Streifenwagen, durchsuchen das Vereinshaus. Die Feuerwehr stellt einen Lichtmast auf, der alles taghell erleuchtet. Die Mordkommission ist mit zehn Fahndern vor Ort.

Die Ermittlungsmaschinerie läuft auf Hochtouren - bis das angebliche Opfer im Krankenhaus erwacht. Was er und schließlich auch seine beiden "Retter", die sich in ihrer Vernehmung zusehends in Widersprüche verwickeln, dann berichten, wäre fast schon kurios, könnte man über das Alter der Beteiligten und den Aufwand von Polizei und Feuerwehr hinwegsehen: Danach hatte die minderjährige Gruppe von zehn bis fünfzehn Gästen einer Geburtstagsparty eine Laube in dem Kleingartenverein gestürmt. Die Hütte gehört den Eltern eines der Feiernden, die reichlich Alkohol mitbringen. Da sie keinen Schlüssel dabeihaben, steigen sie einfach durchs Fenster: Was hinein prima gelingt, erweist sich mit gestiegenem Alkoholpegel wieder hinaus als schwierig. Der Zwölfjährige, der aus Delve in Schleswig-Holstein stammt, aber in einem Kinderheim an der Süderstraße lebt, fällt aus dem Fenster, stößt sich den Kopf auf. Das Blut beschmutzt seine gesamten Sachen. Unfähig zu laufen, weil zu betrunken, packen ihn zwei seiner alkoholisierten Freunde an den Beinen, schleifen ihn zur Kneipe, wobei sie ihm Prellungen am ganzen Körper zufügen. "Aus Spaß" wird der Leblose dabei noch mit Böllern beworfen. Er verliert auf dem Weg seine Hose und seine Schuhe. Der Rest ist bekannt.

Was sie mit ihrer Geschichte auslösten, war den Teenagern wohl nicht ganz klar. Ebenso unklar ist jetzt, wer die Kosten für den Einsatz übernehmen muss. Alle Beteiligten wurden am Sonnabendmorgen von ihren Erziehungsberechtigten abgeholt.