Kirchwerder. Sie ist mit ihrem Fahrrad von Kirchwerder aus quer durch Deutschland gefahren, von Amrum bis zur Zugspitze. Aber darum, möglichst viel Strecke zu machen, ging es Anna Magdalena Bössen nicht. Ihre Reise war eine philosophische. Zwei Halbjahre tourte sie durchs Land, um der Frage nachzugehen: „Bin ich Deutschland? Was ist Heimat?“ Mit im Gepäck waren Gedichte von Bettina von Arnim, Goethe, Hesse oder Rilke. Denn Anna Magdalena Bössen ist professionelle Rezitatorin und hat in Dresden, auf Sylt, in Erfurt, Nürnberg oder Haby ihre Gedichte gegen Kost und Logis vorgetragen – in fremden Wohnzimmern, in Kirchen, auf einer Huskyfarm oder vor einem Pferdestall und beim Adel. Jetzt ist sie zurück: mit Buch und Bühnenprogramm.
8160 Kilometer, 92 Gastgeber, 100 Auftritte – die Suche nach der Identität war lang. Als sie am Elbdeich stand mit ihrem neuen Fahrrad, wurde ihr bewusst, dass sie Deutschland nicht richtig kennt. Die Fahrradtour sollte eine Reise zu ihrer Identität, zu ihrem Land, werden. Die Kernfrage: „Bin ich Deutschland?“
Eine anstrengende Entdeckungstour. Nicht nur für die Beinmuskulatur, sondern auch für die Seele. Immer woanders zu sein, sich immer wieder auf fremde Menschen einzustellen, kann harte Arbeit sein. „Ich wusste nichts von den Leuten, bei denen ich schlief. Ich kam an, die Tür ging auf, und ich war bei jemandem Unbekannten zu Hause.“ Wenn ihr Kopf voll war von den vielen Eindrücken, half der Blick in die Natur, das Fahrradfahren an Flüssen, durch Felder und Wälder. Nicht immer gab es Radwege, sodass sie an den Ufern der Flüsse entlang gefahren ist. Im Süden, hat sie erfahren, sind Radfahrer nicht überall gern gesehen. „Ihr Scheiß-Radfahrer“, rief ihr ein älterer Fußgänger zu. Dabei hatte sie ihm Vorfahrt gewähren wollen. Manchmal war die 35-Jährige erschöpft. Am Bodensee ging es nicht mehr. Da hockte sie heulend auf einem Heuballen, auch weil der schimpfende Fußgänger ihr den Rest gegeben hatte.
Eine halbe Stunde später saß sie bei einer fremden Frau im Gartenhäuschen. Eva hieß ihre Gastgeberin für diese Nacht. Das Prinzip ihrer Reise: Menschen laden sie ein, gewähren ihr ein Bett und Essen und eine Waschmaschine für die schmutzige Funktionswäsche, dafür trägt sie Gedichte vor. So wie bei Eva oder wie bei Britta aus Haby in Schleswig-Holstein, die sie eingeladen hatte, sie auf ihrer Huskyfarm zu besuchen. Ihre Bühne war direkt vor einem Hundezwinger mit 20 Schlittenhunden, die Gäste versammelten sich unter einem Baum. Und mittendrin Anna Magdalena Bössen, die Gedichte rezitierte:
Lichtung
manche meinen lechts und rinks
kann man nicht velwechsern.
werch ein Illtum!
Auswendig trägt sie die Gedichte vor. Denn Anna Magdalena Bössen ist Rezitatorin. Also Gedichte-Sprecherin mit Diplom. Das hat sie vier Jahre lang in Stuttgart studiert. Weil das Geld während ihrer Reise knapper wurde als gedacht, hatte sie auch Auftritte gegen Gage. Für sie sind Gedichte Leidenschaft. Und sie ist überrascht, wie sehr Gedichte auch andere Menschen aufrütteln. „Manchmal diskutierte das Publikum noch morgens bis vier Uhr“, sagt sie. Ein Zuhörer in Goslar sagte: „Ich dachte, Sie lesen hier Märchen vor, und dann schmeißen Sie solch eine Bombe.“ Damit meinte er die Frage nach Identität, nach Heimat, die sie dem Publikum stellte. Gerade mit Beginn der Flüchtlingsströme war diese Frage allgegenwärtig.
Wie ticken denn die Deutschen? „Wir sind schwer romantisch“, sagt sie und lacht. Anna Magdalena Bössen lacht gern und viel, wenn sie nicht gerade weinend auf einem Heuballen sitzt. Sie selbst konnte sich dieser Romantik auch nicht entziehen, als sie den Heiratsantrag ihres heutigen Mannes Conrad oben auf der Zugspitze annahm. Conrad hatte sie während der Tour besucht.
Sicher, die Deutschen seien korrekt, organisiert, perfektionistisch. Aber: „Es gibt auch die witzige, verspielte Seite“, sagt sie, „nur dass die nicht so offen gezeigt wird.“ Sicher, die Italiener gelten als leidenschaftlich. „Sollen die doch quatschen, wir machen einfach nur weniger Gewese darum. Wir lieben aber nicht weniger.“
Auf Sylt hatte sie einen Kreis von 80 Einheimischen, die sich freuten mitten in der Touristensaison unter sich zu sein. Dort ging es um Vertreibung aus der Heimat, wenn man sich das Leben auf seiner Insel nicht mehr leisten kann. Auf Hallig Hooge stellte sich für die Frau, die seit Generationen auf der Hallig wohnt und tief verwurzelt ist, die Frage nach Heimat gar nicht. Einfach, weil sie so selbstverständlich ist. Im Süden gebe es einen regelrechten Heimatkult und im Osten hat Anna Magdalena Bössen selbst ein Stück Heimat verloren: In der Zeit starb ihre Mutter.
Ist sie deutsch? „Ja, das bin ich!“, sagt sie voller Überzeugung. Das hat sie während der Tour immer mehr gemerkt. „Deutschland ist für mich so viel mehr als Fußballweltmeister und Wirtschaftsnation. Die Landschaft, die Menschen, Gespräche und Begegnungen am Wegesrand haben mir etwas geschenkt, was man nicht kaufen kann: ein Gefühl von Zugehörigkeit und Zuhause.“ Ein weiteres Wandermärchen plant sie nicht. Sie ist angekommen und möchte wieder in die Stadt ziehen, weil sie hier alles mit dem Rad erledigen kann.
Am Dienstag, 10. Mai, stellt Anna Magdalena Bössen ihr Buch „Deutschland. Ein Wandermärchen“
(ISBN: 978-3-453-28076, 16,99 Euro) und ihr Bühnenprogramm vor. Um 19.30 Uhr, 2te Heimat,
Max-Brauer-Allee 34
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