Hamburg. Olaf Jessen hat die zwölf Schüler in seiner Hankook-Sportschule, die direkt am S-Bahnhof Langenfelde liegt, am Tisch versammelt. Es ist ein Uhr mittags. Der 49-Jährige fragt die Jungs der Reihe nach ab, warum sie hier sind und was sie hier wollen. Und warum sie in der Schule immer wieder Probleme haben. Mit anderen Schülern, mit der eigenen Wut. „Ich bin eine tickende Zeitbombe“, sagt einer so beiläufig, als hätte er gerade seinen Nachnamen buchstabiert.
Seit heute auf den Tag genau fünf Jahren gibt es das gemeinnützige Projekt Boxschool. Olaf Jessen ist der Vorsitzende und so etwas wie das Gesicht des Vereins für Gewaltprävention, der ein anerkannter Träger der freien Jugendhilfe ist. Und mittlerweile an 21 Schulstandorten in Hamburg Kinder und Jugendliche auf ihrem Weg zu einem „gewaltfreien und kooperativen Miteinander“ unterstützt.
Sie kommen direkt aus der Schule hierher. Es gibt Mittagessen, frisch zubereitet. Sie essen immer alle zusammen. „Wir sitzen beim Essen aufrecht“, sagt Jessen. Sie decken gemeinsam den Tisch, räumen die Sachen hinterher wieder ab. Dann geht es zum Training in den großen Raum mit den riesigen Spiegelwänden. Rundenlaufen, Schattenboxen. „Wir halten uns hier an Regeln“, sagt Olaf Jessen. Sie müssen pünktlich sein, dürfen ihr Sportzeug nicht vergessen. Und wenn doch?
„Was wollen wir machen, wenn jemand gegen Regeln verstößt“, fragt Olaf Jessen. „Liegestütze“, sagt einer. „Wie viele?“ „Zehn Stück“, antwortet ein anderer. „Schafft ihr das?“, fragt Jessen. „Lasst uns lieber mit fünf Stück anfangen.“
Sie arbeiten bei Boxschool mit Schülern, die bereits auffällig geworden sind. Und mit Jugendlichen, die im Abseits stehen oder selbst Opfer von Gewalt geworden sind. „Wir kommen über den Sport“, sagt Olaf Jessen. Sie bauen Vertrauen auf, sie sprechen die Sprache der Jugendlichen, und manchmal erzählen die Schüler dann mehr über ihre Probleme. Jessen liegen die Kinder am Herzen. Besonders die schwierigen. Er war ja selbst so ein schwieriges Kind.
Aufgewachsen ist er in der Neustadt, direkt am Michel. Seine Eltern hatten sich früh getrennt, Olaf Jessen ist beim Vater aufgewachsen. Der war nicht immer zimperlich in seinen Erziehungsmethoden. Jessen sagt, er hatte zu Hause wenig Halt. Er galt schon in der ersten Klasse als nicht beschulbar. „Ich war immer mit einem Fuß im Heim.“ Er habe die Straße kennengelernt und sich nie etwas gefallen lassen. „Ich kenne die Biografien der Jungs, die jetzt vor mir sitzen“, sagt er.
Mit elf Jahren hat er das Boxen angefangen. „Der Sport hat mich wieder in die Spur gebracht“, sagt er. Olaf Jessen hat nach der Schule bei Blohm + Voss im Rohrleitungsbau gearbeitet. Er hat ein Studium als Fitness-Fachwirt absolviert und vor 20 Jahren erste Box-Kurse in Sportstudios gegeben. Später hat er das Fitness-Boxen für Frauen etabliert und war Präsident des Hamburger Amateur-Boxverbandes.
Er hat Schauspielern für Filmszenen das Boxen beigebracht
Vor drei Jahren hat Olaf Jessen angefangen, die Musical-Darsteller von „Rocky“ in seinem Studio für die beeindruckenden Bühnenauftritte im Operettenhaus zu trainieren. Er hat Schauspielern für Filmszenen das Boxen beigebracht. Und für Unicef und für die Kinderherzstation der Uniklinik Eppendorf Taekwondo-Turniere mit Kindern organisiert. Ein Leben ohne das Boxen kann sich der Vater eines 17-jährigen Jungen nicht vorstellen.
Was er von den Jugendlichen will? „Wir wollen Grenzen aufbrechen. Wir arbeiten nicht mit Strafen, sondern sehen bei jedem Jugendlichen erst einmal die Chance zur Veränderung. Wir halten ihnen den Spiegel vor, wenn es nicht klappt. Aber wir sind ihnen auch nicht böse, wenn sie nicht mitziehen – das bleibt ihre Entscheidung.“
Es geht darum, Jugendliche stärker zu machen. Stark im Sinne von selbstbewusst. „Sie sollen in ihrer Wertschätzung gestärkt werden“, sagt Jessen. Damit sie irgendwann andere Lösungsmöglichkeiten haben „als Konflikte nur mit Gewalt zu beantworten“.
Seit 2008 sollen Hamburgs Lehrer Gewaltvorfälle an ihren Schulen unverzüglich der Behörde melden. Erstmals wurde der Anstieg jetzt gestoppt: 1572 Fälle von leichter und 316 Fälle von schwerer Körperverletzung wurden gemeldet. Im Vorjahr waren es 1591 und 317 Fälle. Die Aussagekraft der Zahlen ist begrenzt. Manche Schulen melden Schneeballwürfe als Gewalttat, andere seit Jahren nicht einen einzigen Vorfall. Dennoch sei es ein gutes Zeichen für die Gewaltprävention an Schulen, so Schulsenator Ties Rabe (SPD).
Wenn Olaf Jessen und die anderen muskelbepackten Trainer mit den Schülern arbeiten, genießen sie von Anfang an Respekt. Sämtliche Trainer nehmen verbindlich an Fortbildungsveranstaltungen teil, die von Boxschool in Kooperation mit der Beratungsstelle für Gewaltprävention gegeben werden. Das Team steht bei Boxschool an erster Stelle. „Alle arbeiten hier nur für die Sache, es geht uns um die Kinder. Keiner spielt sich in den Vordergrund, alle sind mit Leidenschaft und Herz dabei und wollen was bewegen“, sagt Olaf Jessen. Und ganz wichtig sei, sagt er zum Schluss: „Wir benutzen den Kopf bei Boxschool nur zum Denken – und niemals als Ziel.“
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