War es Automatismus, Zivilcourage, schnelle Auffassungsgabe? Nach der Messerattacke von 1993 springt Winfried Röhl auf den Platz und hilft. Jetzt spricht er zum ersten Mal öffentlich darüber.

Hamburg. Die klassische Ray-Ban-Pilotenbrille besitzt er immer noch, das lachsfarbene Hemd, mit dem er weltweit in den Zeitungen abgedruckt war, ist dagegen längst in den Altkleidersack gewandert. Schließlich ist es am Dienstag auf den Tag 20 Jahre her, dass Winfried Röhl unfreiwillig für einen Wimpernschlag im Mittelpunkt des Weltinteresses stand.

Der Hamburger ist auf allen Fotos und Filmschnipseln zu sehen, die diese dramatischen Momente nach der Messerattacke auf Monica Seles, die damalige Weltranglistenerste im Damentennis, dokumentieren. Wie er hinter der damals 19-Jährigen steht, die geschockt ein, zwei Schritte über den Platz taumelt. Wie er hinter sie tritt, seine Arme ausbreitet, um sie auffangen zu können, und wie er dann schließlich vorsichtig zupackt, Monica Seles stützt und sie sanft hinsetzt.

Als der Turnierarzt Peter Wind und drei Sanitäter nach weiteren 20 Sekunden im Laufschritt eintreffen, weiß Röhl, dass er jetzt nichts mehr tun kann. Er dreht sich um, tritt einmal gegen die Bande, klettert wieder auf die Tribüne zurück und will jetzt nur noch nach Hause, zurück in seine Wohnung in Eppendorf. "Warum ich gegen die Bande getreten habe? Ich war einfach ungeheuer wütend", erinnert er sich, "und ich habe mich gefragt: Es war so ein schöner Tag. Wie kann jemand an einem so schönen Tag so was tun?" Kurz vor dem Ausgang fängt ihn ein Zeitungsreporter ab. "Er fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, dass diese Attacke auf Seles etwas mit dem serbisch-kroatischen Konflikt zu tun hätte. Ich verneinte. In der Zeitung stand dann am nächsten Tag der Name Röhrl. Und auch Servicehelfer, wie mehrfach zu lesen war, sei er nie gewesen. Nur ein Zuschauer."

Winfried Röhl war 30 Jahre alt an jenem Viertelfinaltag bei den German Open. Der gebürtige Hochsauerländer aus Brilon hatte in München Architektur studiert und arbeitete in Hamburg. Heute ist er als Projektmanager für den Hamburger Investor Dieter Becken tätig; er verantwortet unter anderem den Neubau des Boa-Vista-Gebäudes am Hafenrand, dem ehemaligen Germanischen Lloyd. Röhl hatte Urlaub damals, und er hatte spontan beschlossen, ein Tagesticket für die Viertelfinals zu kaufen. Er sei zwar kein passionierter Tennisspieler, meint er, aber er sei der Meinung, dass die Matches der letzten acht immer besonders spannend seien.

Um 18.49 Uhr, beim Stand von 4:3 im zweiten Satz für Monica Seles gegen die Bulgarin Magdalena Malejewa, ist Seitenwechsel. Monica Seles nimmt Platz auf der Bank, einige Zuschauer nutzen die Pause, um auf ihre Plätze zurückzukehren oder sie zu verlassen. "Günter Parche kam von rechts. Er lief an mir vorbei und blieb direkt hinter Monica Seles stehen. Da war nichts Auffälliges. Dann knisterte eine Plastiktüte. Ich guckte hin, aber da war es schon geschehen." Um 18.50 Uhr sticht Parche zu. In den Rücken der Tennisspielerin.

Vier Tage lang hat der geistig verwirrte Steffi-Graf-Fan auf seine Chance gewartet. Millimeter neben dem vierten Brustwirbel dringt die 23 Zentimeter lange Klinge des Ausbeinmesser zwei Zentimeter tief ein. "Sie schrie auf, schnellte von der Bank hoch und griff sich an den Rücken."

Aus den Augenwinkeln heraus bemerkt Röhl, wie ein Ordner den Attentäter von hinten zurückreißt und in den Schwitzkasten nimmt. Die beiden Frauen neben ihm sitzen wie versteinert auf ihren Plätzen. Dann sieht er das Blut auf dem weißen Tennisdress von Monica Seles. Er sieht auch, wie sie taumelt. Und er hört, wie sie hustet. "Ich bin medizinisch nicht vorgebildet, aber ich dachte sofort Husten, Röcheln, vielleicht ist es die Lunge. Sie war so wackelig auf den Beinen, und so bin ich dann zu ihr auf den Platz, um sie zu stützen. Ich hielt es in diesem Moment einfach für richtig", sagt Röhl.

War es Automatismus, Zivilcourage, schnelle Auffassungsgabe? Wenige Menschen haben wohl den Mut, eine solche Schwelle zu übertreten: Doch Röhl hatte offenbar als einer der Ersten begriffen, was passiert war. Er ruft dem Schiedsrichter oben auf dem Stuhl zu, dass Monica Seles verletzt sei. Stephan Voß schaltet schnell, alarmiert per Durchsage den Turnierarzt Peter Wind. Röhl bleibt bei Monica Seles, bis der Mediziner eintrifft.

Bis heute habe Monica Seles nicht mit ihm gesprochen. "Wahrscheinlich weiß sie nicht mal, wer ich bin - aber wozu auch?" Nur einmal, kurz vorm Prozess, habe der Rechtsanwalt Gerhart Strate bei ihm angerufen, der als Nebenkläger im Prozess gegen Parche auftrat. Aber da Röhl zur eigentlichen Tat nichts aussagen kann, ist er als Zeuge überflüssig. "Ich finde jedoch, dass man Monica Seles später bei uns nicht gut behandelt hat", sagt Röhl. Auch wenn der Attentäter an einer Persönlichkeitsstörung gelitten habe (Parche lebt heute schwer krank und entmündigt in einem thüringischen Pflegeheim), müsse dessen Bewährungsstrafe für Monica Seles wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein, glaubt er. Denn spätestens im Prozess sei ja klar geworden, dass viel Schlimmeres hätte passieren können, wenn sich Monica Seles im Augenblick der Tat nicht vorgebeugt hätte.

Ihr Leben hat sich nach dem Attentat verändert. Sein Leben nicht. Monica Seles war schwer verletzt, aber es war in erster Linie ihre Psyche, die sich nur sehr langsam von dem Schock erholte und in ihre Tenniskarriere stark beeinträchtigen sollte. Für Röhl lief es ganz normal weiter. Lediglich ein paar Freunde, die ihn damals auf den Fotos erkannt haben, hätten ihn damals angesprochen, sagt er. "Komisch waren nur die Schlagzeilen und das Foto mit mir: 'Attentat auf Monica Seles'. Da könnte man ja durchaus auf einen falschen Gedanken kommen", sagt er. Und lächelt.