Michael Jürgs war “Stern“-Chefredakteur. Nach einer Niederlage suchte der beliebte Journalist und Autor neuen Erfolg. Und er fand ihn.

Hamburg. Wenn ihm heute ein Chefredakteur von 44, 48 Jahren sein Leid klagt, antwortet Michael Jürgs, 67: "In Ihrem Alter war ich schon zweimal rausgeflogen." 1990 beim "Stern" wegen der Titelzeile "Sollen die Ossis bleiben, wo sie sind?", und 1994 bei "Tempo", weil er sich weigerte, dem Verleger die Hefttitel immer vorab vorzulegen.

Das Aus beim "Stern" hat er als "unglaubliche Niederlage" erlebt. "Seit 14 Jahren dabei, dreieinhalb Jahre Chefredakteur, Vertrag gerade verlängert - ich glaubte, mir kann nichts passieren." Als er damals seine Frau anrief und sagte: "Ich bin gerade entlassen worden", sagte sie: "Endlich!" Sie hatte schon länger das Gefühl, dass er sich in diesem Job, "14 Stunden plus Lesen", von der Lebenswirklichkeit in seiner Stadt, von seinen Freunden, seiner Familie so weit entfernt hatte, dass es gefährlich wurde.

Der Rauswurf nagt an der Seele. Jürgs fliegt mit Frau und Sohn in die Karibik. Wird schwer krank. Fliegt zurück nach Deutschland. Nur langsam wächst in ihm das Gefühl: "Ich werd's euch zeigen." Im Herbst 1990 beginnt er sein erstes Buch. "Der Fall Romy Schneider" erscheint 1991, es wird ein Bestseller, verfilmt, und bringt ihn als Autor zurück auf die große Bühne.

Heute sagt Jürgs: "Für meine Persönlichkeit war der Rauswurf das Wichtigste, was in meiner journalistischen Laufbahn geschehen ist." Bis dahin hatte er nur Blitzstart und Höhenflug erlebt. Geboren in Ellwangen, aufgewachsen in Hamburg-Harburg, Friedrich-Ebert-Gymnasium, Tanzschule Hädrich. Studium mit 19 Jahren in München: Politik, Geschichte, Germanistik. Er gibt mit dem späteren Rowohlt-Verleger und Kulturminister Michael Naumann die Studentenzeitung "Common Sense" heraus. Die wird verboten "wegen kommunistischen Inhalts". Jürgs lacht: "Heute wäre sie wohl rechts von der FDP." Der Skandal bringt Naumann ein Volontariat beim "Münchner Merkur", Jürgs eines bei der "Abendzeitung". Für seinen ersten Artikel 1966 fährt er mit Heinos Hannelore auf dem Kettenkarussell, findet den neuen Beruf trotzdem spannender als Studieren.

Alles früher wissen, Geschichten als Erster haben, Dinge in Bewegung bringen. Mit 23 ist er Feuilletonchef der "Abendzeitung", 1968. Polarisiert gern, muss zur Reportageseite. Von dort kommt er 1976 zum "Stern". Unterhaltungschef, 1986 Chefredakteur.

Jürgs ist Nachrichten-Maniac, bis heute. "Das ist Sucht und tiefe journalistische Lust. Die Sorge, etwas nicht zu wissen. Ich lese acht Tageszeitungen. Dazu 'Spiegel' und 'Zeit' und etwa 20 Magazine." Den "Stern"? "Ja, seit ich den 'Spiegel' berate. Vorher hat's mich nicht mehr interessiert."

Seine Bücherthemen entstehen oft aus kleinen Meldungen: "Ich lese etwas und denke: Da steckt doch 'ne Geschichte drin." Früher hat er Reporter losgeschickt, heute gibt er Freunden Tipps, hilft mit Kontakten - "ich bin nicht bei Facebook, ich kenn Leute". Hängt am Telefon, giftet, lobt. Oder schreibt selbst.

Eben fertig geworden: "Codename Hélène" (C. Bertelsmann, 320 Seiten, 19,95 Euro. Lesung am Mittwoch, 17.10., 19.30 Uhr, im Logensaal der Hamburger Kammerspiele, 12,-/9,- Euro) über Nancy Wake. Aufgewachsen in Australien, geht sie nach Frankreich, wird Reporterin, heiratet. Vor den Nazis flieht sie nach England. Wird zur Geheimagentin ausgebildet, springt mit dem Fallschirm im April 1944 über dem besetzten Frankreich ab, kämpft mit der Résistance gegen die Deutschen.

Aufmerksam wird Jürgs 2011 durch einen Nachruf. Er lässt sich in London die Personalakten zeigen. Sucht weiter nach dort genannten Personen. "Ich habe gearbeitet wie beim MI5." Und denkt: Zum Thema gehört doch auch der Hintergrund, das deutsch besetzte Frankreich. So wird es auch ein Buch über die Geschichte der Nazis in Frankreich, über Kollaboration und Antisemitismus dort. "Die Details wusste ich selbst kaum - wie viele Franzosen da mitgemacht haben. Auch in Frankreich waren ja nachher angeblich alle im Widerstand gewesen."

Sein roter Faden durch alle seine Bücher: die Auseinandersetzung mit der deutschen NS-Vergangenheit, befeuert vom eisernen Schweigen der Elterngeneration. "Da fängt man an zu forschen." Und von der Hitler-Tagebuch-Affäre des "Sterns" - "ein unvorstellbarer Bruch". Schon in seiner "Abendzeitung"-Zeit spürt er Alt-Nazis auf. "Bei Romy gehörte das dazu, die ja dieses postfaschistische Land verlassen hat. Auch in der Axel-Springer-Biografie, bei den Büchern über die Treuhand, über Richard Tauber, Eva Hesse oder Günter Grass." Unerbittlich ist Jürgs da, lehnt eine Lesung in Hoyerswerda ab und begründet das öffentlich. "Es gibt Punkte, wo ein Deutscher der Nachkriegsgeneration - ich bin geboren im Mai 1945 - Stellung beziehen muss."

Er engagiert sich auch sonst: im Verein "Dunkelziffer" gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern und Kinderpornografie - "dafür muss die Vorratsdatenspeicherung her". Für die Kinderkrebshilfe der Stiftung "phönixx", für die Deutsche Alzheimer-Stiftung.

Schreibt weiter Bücher, tummelt sich in den Bestsellerlisten. Und lernt seit einem Jahr Klavier. "Musik machen ist ein alter Traum, ich hab mir ja schon das Studium verdient als Sänger mit Rock 'n' Roll im Alten Simpl in München. One night with you ..." Ein Mann und 88 widerspenstige Tasten. "Greensleeves" hat er schon öffentlich spielen müssen, als Schüler ihm während eines Interviews ein Klavier auf die Bühne schoben. Inzwischen übt er "Amazing Grace". Und selbst wenn er lästert, hat das eine musikalische Note: "Bei manchen Journalisten wünsch ich mir, sie würden ein Instrument üben, statt täglich die Sprache zu vergewaltigen."