Zeitzeugen erzählen Stadtteilreporterin Gabriela Urban ihre Erlebnisse aus Eimsbüttel. Folge 1 beschäftigt sich mit der Fußball-WM 1954.

Eimsbüttel. Das Interesse ist groß. Ein Aufruf im Abendblatt in der vergangenen Woche sorgte für volle E-Mail-Postfächer. Viele Bewohner aus Eimsbüttel wollen von ihren Erlebnissen erzählen, die alten Zeiten aufleben lassen. Als ersten Zeitzeugen traf das Abendblatt Joachim Grabbe.

Der heute 70-jährige Grabbe kann sich noch sehr gut an den 4. Juli 1954 erinnern. An den Tag, an dem Deutschland Weltmeister wurde. Nachdem an der Osterstraße die meisten Trümmer aus dem Krieg bis 1950 beseitigt waren, begannen die Menschen allmählich wieder aufzuatmen und zu leben. Die Währungsreform von 1948 brachte den ersten Schub: Plötzlich gab es wieder alles zu kaufen, vieles war erschwinglich und die Wirtschaft florierte, erinnert sich Joachim Grabbe beim Rundgang durch den Stadtteil.

"Auf den Trümmergrundstücken entlang der Osterstraße entstanden zunächst provisorische Holzbuden, in denen Lebensmittel, Textilien und Reparaturdienste angeboten wurden." Doch nicht nur wirtschaftlich schien es endlich bergauf zu gehen. Auch die deutsche Nationalmannschaft durfte 1954 in der Schweiz das erste Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder an einer Fußballweltmeisterschaft teilnehmen. "Nach einem desaströsen Vorrundenspiel gegen den Favoriten Ungarn schlugen sich die Jungs von Trainer Sepp Herberger durchaus beachtlich. Nach einem grandiosen Sieg gegen Österreich schafften es dann Fritz Walter, Helmut Rahn und Co. tatsächlich ins Finale und somit war das Fußballfieber gänzlich entfacht."

Auch der damals 13-jährige Joachim Grabbe war vollkommen dem Fußballfieber erlegen. "Als leidenschaftlicher Fußballspieler war das Finale für mich und meine Freunde ein unvergessliches Ereignis." Fernseher hat es in den 50er-Jahren in Privathaushalten noch fast gar nicht gegeben, und so saßen Familien vor ihrem Radio und lauschten gespannt den hitzigen Worten des Radiokommentators. Aber nur den Worten zu lauschen reichte dem 13-Jährigen nicht, er wollte der Nationalmannschaft "live" zuschauen, erzählt Grabbe.

Und so kam ihm die Idee, zu Radio Schmidt in die Osterstraße 90 (das heutige Modegeschäft fée) zu gehen. "Im Schaufenster gab es den einzigen Schwarz-Weiß-Fernsehapparat weit und breit, auf dem das Fußballspiel übertragen wurde - leider ohne Ton, aber das machte nichts, aus der benachbarten Eisbude von Adda (der heutige Edeka-Supermarkt) tönten die aufbrausenden Worte des legendären Radiokommentators Kurt Zimmermann." Nach und nach habe sich eine riesige Menschentraube vor dem Geschäft versammelt, alle fieberten gemeinsam mit. Ganz vorne in der ersten Reihe drückte sich Joachim Grabbe mit seinen Freunden am Schaufenster die Nase platt. "Nachdem Helmut Rahn das 3:2 gegen den Favoriten geschossen hatte, herrschte in der Osterstraße eine knisternde, angespannte Stimmung. Wildfremde Menschen standen nebeneinander und trauten sich kaum zu atmen. War das der Sieg?" Noch wagte keiner zu triumphieren, doch als endlich der lang ersehnte Schlusspfiff kam, brach ganz Eimsbüttel in einen frenetischen Jubel aus, erinnert sich Grabbe.

Der Rentner kann sich noch sehr gut an das Gefühl von damals erinnern: "Ob jung oder alt - alle Menschen lagen sich in den Armen, jubelten und tanzten auf dem Bürgersteig. Mit dem Sieg regte sich plötzlich ein ganz neues Wir-Gefühl. Das Gefühl, dass die Deutschen nach langer Zeit wieder im positiven Sinne von sich reden machten. Etwas Unvorstellbares war passiert: Der Außenseiter hatte die bis dahin seit Jahren ungeschlagene ungarische Mannschaft besiegt. Das erste Mal nach vielen, vielen Jahren durften wir wieder auf unser Land stolz sein."

Lesen Sie weitere Berichte in Kürze online - die von den Streichen der Kinder aus der Clasingstraße, von Tante-Emma-Läden oder der einzigen Seilbahn in Eimsbüttel. Und sollten Sie Gabriela Urban von ihren Erlebnissen aus Eimsbüttel erzählen wollen, dann schicken Sie eine E-Mail an die Stadtteilreporterin.