Ein Stardirigent, der bei der Ankunft schon betrunken war, ein Elefant, der nicht durch die Tür passte, ein kranker Showmaster, der alle zu Tränen rührte: Yvonne Weiß erinnert an legendäre Momente aus fünf Jahrzehnten

Am Anfang war das Wort – beziehungsweise drei Wörter: „Gibt’s noch was?“ fragte der damalige Chefredakteur der „Hör Zu“ (damals noch auseinandergeschrieben) Hans Bluhm an einem Sommertag im Jahr 1964. Er saß mit ein paar Kollegen im 10. Stock des Axel-Springer-Hauses in Hamburg zusammen. Die Konferenz hätte zu Ende sein können. Jeder wäre seiner Wege gegangen, und der wichtigste deutsche Fernsehpreis wäre nie geboren worden. Doch der Ressortleiter Peter Kniewel hatte eine Idee: „Eigentlich sollte Europas größte Programmzeitschrift einen Preis schaffen, mit dem wir die besten Darsteller, Moderatoren und Sendungen ehren. So eine Art Fernseh-Oscar.“

Der Vorschlag war schon deshalb gut, weil man sich damals bemühte, „Hörzu“ von der einstmals reinen Hörfunkzeitschrift hin zu einer umfassenden Programmzeitschrift zu verwandeln, in der das Fernsehen im Fokus stand. Karlheinz Moser, der von 1953 bis 1994 bei „Hörzu“ arbeitete, erinnert sich, dass schnell Nägel mit Köpfen gemacht wurden: Eine Jury aus sechs Redakteuren wurde gebildet, die eine Liste mit 40 Nominierungen zusammenstellte. Der Name des Preises wurde gefunden und ein Berliner Bildhauer mit der Anfertigung einer Skulptur beauftragt. Sie ist der elektronischen Fernsehkamera nachempfunden, die 1936 bei den Olympischen Spielen zum ersten Mal im Einsatz war.

Im Januar 1966 fand die erste Verleihung der Goldenen Kamera im Hamburger Hotel Vier Jahreszeiten statt. Ein Kammerorchester spielte, und eine Legende besagt, dass Verleger Axel Springer sich ein Zimmer in dem Hotel genommen habe. Er sei nicht sicher gewesen, ob die Veranstaltung seiner Zeitschrift wirklich ein Erfolg werden würde und habe zu Chefredakteur Hans Bluhm gesagt: „Wenn die 120 Leute, die auf der Gästeliste stehen, wirklich alle erscheinen, dann komme ich runter.“ Sie kamen.

Aus dem kleinen, feinen Event wurde relativ schnell eine geradezu bombastische Veranstaltung, sogar größer als heute, allerdings mit einem ganz anderen Konzept. Nachdem die ersten neun Veranstaltungen im kleinen Rahmen im Wechsel zwischen dem Hamburger Vier Jahreszeiten und dem Berliner Verlagshaus stattgefunden hatten, wurden in den 80ern riesige Hallen gemietet, in denen Tausende von Zuschauern Platz hatten, die dort ein ordentliches Spektakel erleben sollten.

10.000 Menschen sind beispielsweise 1976 dabei, als Günter Noris und Big Band die Dortmunder Westfalenhalle zum Kochen bringen. Die Moderatoren Frank Elstner und Dieter Kürten reiten auf Kamelen in den Saal; der Formel-1-Fahrer Harald Ertl braust mit seinem Rennwagen herum. „Er rutschte dabei in die vorderen Stuhlreihen, zum Glück wurde niemand verletzt“, sagt Roman Köster, der die Goldene Kamera zu jener Zeit organisierte. Der „Hörzu“-Redakteur hatte noch mit weiteren Herausforderungen zu kämpfen: Gotthilf Fischer reist mit 1000 anstatt, wie abgesprochen, mit 400 Sängern an. Alles verzögert sich, woraufhin die Fußball-Nationalmannschaft mit vorzeitiger Abreise droht. Das dickste Problem stellt allerdings ein Elefant dar: Er passt nicht durch die Hallentür. Als man ihn endlich hindurch gequetscht hat, weigert sich Roberto Blanco hinaufzusteigen. Auf keinen Fall werde er auf dem Rücken eines Elefanten „Ein bisschen Spaß muss sein“ singen, empört er sich. Macht er dann aber doch.

1979 gelingt der „Hörzu“ ein echter Coup: Johannes Paul II. nimmt die Goldene Kamera an. „Dass ein Papst die Ehrung einer Fernsehzeitschrift aus Hamburg entgegennimmt, hätte sich niemand auch nur in seinen kühnsten Träumen vorstellen können“, erinnert sich der damalige Chefredakteur Peter Bachér. Ein Kollege aus der Wiener „Hörzu“-Redaktion hat den Deal eingefädelt, Peter Bachér daraufhin einen Brief nach Rom geschrieben und zu seiner eigenen Verblüffung tatsächlich eine Einladung zu einer Privataudienz in den Vatikan erhalten. Der Chefredakteur war mehr als nervös. Am Vortag rauchte er eine ganze Packung Zigaretten, beim Warten im Vorzimmer dachte er noch zu träumen und sich in einem Film zu befinden, doch dann ging die Tür auf, der Papst sagte: „Grüß Gott!“ und hakte sich bei Peter Bachér unter, der später über diese Szene sagt: „All meine Befürchtungen, es könnte etwas schieflaufen, waren verschwunden, wie weggezaubert durch diesen Mann, ausgelöst durch seine Güte.“ In akzentfreiem Deutsch formuliert der Papst eine Bitte: „Helfen Sie mit Ihrer weit verbreiteten Programmzeitschrift, die Hörer und Zuschauer zu einem ausgewogenen und kritischen Gebrauch der modernen Kommunikationsmittel heranzubilden, auf dass diese wunderbare Technik Ihnen zu einem geistigen und moralischen Fortschritt gereicht.“

Einer, der die Goldene Kamera wahrscheinlich besser kennt als alle anderen, ist der Hamburger Günter Schiefelbein. Der langjährige stellvertretende Chefredakteur der „Hörzu“ organisierte zahlreiche Veranstaltungen, die erste 1980 in der Berliner Deutschlandhalle, bei der Otto und Boney M. auftraten, echte Superstars zu der Zeit. Die 7000 Zuschauer zahlen Eintritt, der Erlös kommt wie auch in den Jahren zuvor der Krebshilfe zugute. Schiefelbeins Ziel ist es, die Veranstaltung internationaler zu machen, also Hollywoodstars nach Deutschland zu holen. Eine eigentlich unmögliche Aufgabe, denn niemand in den USA hat von dem Event gehört, und es ist auch gar nicht so einfach, Prominente aus dem Ausland in das eingemauerte Berlin einzufliegen.

Schiefelbein telefoniert mit unzähligen Agenten und reist wenn nötig selbst in die USA, um einen Star zu überzeugen. Drei Tage umgarnt er beispielsweise Leonard Bernstein in New York, bis der Stardirigent schließlich zustimmt, allerdings nur unter der Bedingung, dass ihn ein Learjet in Wien abholt, wo er am Vortag mit den Philharmonikern proben sollte. „Ich hatte den Fehler begangen, mich nach seinem Lieblingsdrink zu erkundigen und einen 15 Jahre alten Ballantine’s im Flugzeug deponiert“, sagt Günter Schiefelbein. Als Bernstein in Berlin am Verlagshaus ankommt, ist er komplett betrunken, aber bester Laune. „Diesen Auftritt werde ich nie vergessen: Bernstein hüpft erst im Fahrstuhl herum und springt dann Axel Springer zur Begrüßung fast auf den Arm“, erzählt Schiefelbein. Nach einem Nickerchen in den Privaträumen des Verlegers kann er sich schließlich doch in die erste Reihe des Saales neben Axel Springer setzen, wo die beiden dann sogar Händchen halten.

Obwohl „Hörzu“ Fernsehgrößen auszeichnet, nimmt seltsamerweise das Fernsehen selbst zunächst kaum Notiz von den Veranstaltungen. Die Nachrichtensendungen erwähnen die Preisträger nur nach „langem und intensivem Betteln“, wie Schiefelbein sagt. Mit dem Start der privaten Sender 1984 ändert sich die Situation. Plötzlich streiten sich ARD und ZDF darum, die Goldene Kamera zu übertragen. Man einigt sich auf einen jährlichen Wechsel. Die erste Live-Sendung findet am 23. Februar 1985 statt. Es ist die 20. Veranstaltung mit mehr als 1000 Gästen und rund 200 geladenen Preisträgern.

Warum so viele? Es sind nicht nur die frisch dekorierten wie Miss Ellie (Barbara Bel Geddes) aus „Dallas“ und Max Schmeling, der seine Kamera aus den Händen von Heinz Rühmann erhielt, geladen, sondern auch die der vergangenen 19 Jahre. Sagenhafte 14,77 Millionen Zuschauer erleben die Show am Bildschirm, was eine Einschaltquote von 39 Prozent bedeutet. Auch bei der 25. Goldenen Kamera sind es noch 35 Prozent, wodurch Günter Schiefelbein eine Wette gegen den ZDF-Intendanten Dieter Stolte gewinnt, der nicht an eine so hohe Quote geglaubt hat. Im Jahr darauf dann das komplette Gegenteil: Wegen des Golfkrieges wird nur im kleinen Rahmen in der Bibliothek des Axel-Springer-Hauses gefeiert.

Sehr glamourös sind die Verleihungen im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt. Zwölfmal wird die Goldene Kamera dort verliehen. Schon Tage zuvor reiste fast die komplette „Hörzu“-Mannschaft von Hamburg in die Hauptstadt. Jeder Redakteur hat verschiedene Prominente zu betreuen – und jeder weiß nach diesen Tagen sehr, sehr viel über die Stars und Sternchen zu erzählen, das niemals gedruckt werden dürfte. Wer für die Goldene Kamera von „Hörzu“ arbeitet, der macht ihrem Namen alle Ehre und hört eben zu. Von weitertratschen hat schließlich niemand was gesagt.

Die tollsten Momente finden ohnehin direkt vor laufender Kamera statt: Prinz Philip, der mit Bond-Bösewicht Gert Fröbe scherzt. Rudi Carrell, der von schwerer Krankheit gezeichnet eine Rede hält, die alle zu Tränen rührt. Danny DeVito, der auf der Bühne von seinem Freund Michael Douglas überrascht wird. Oder Diane Keaton, die im vergangenen Jahr erst Matthew McConaughey küsst und dann spontan singt.

Alles goldene Geschichten. Fortsetzung folgt.

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