Jan Christof Scheibe ist Musiker, Komponist, Regisseur. Sein jüngstes Projekt: ein Chor, dessen Mitglieder älter als 70 sind.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbildgelten. Jan Christof Scheibe bekam den Faden von Dagmar Seybold und gibt ihn an Ivano Bertazzo weiter.

Wären Töne rund und griffig wie ein Ball, wäre er so etwas wie Neymar da Silva Santos. Ein Fußballstar, der an der brasilianischen Copacabana den Ball tanzen lässt. Mal auf den Knien, dann hinauf zur Schulter, von der Hacke hoch zum Kopf. Genau jene Leichtigkeit des Spiels liegt Jan Christof Scheibe im Blut. Er jongliert, improvisiert, inszeniert. Mit ungeheurer Freude und Leidenschaft. Das Publikum wirft ihm einen Song zu. Er greift ihn auf, beschleunigt ihn, bremst ihn ab, reichert ihn an mit Emotionen und passt ihn zurück. Es ist ein Spiel, aus der Situation geboren. Keiner kennt den Beginn, keiner den Ausgang. Nur die Regeln, die sind klar. Zusammen schaffen Künstler und Publikum etwas Gemeinsames, das nur für den Moment Gültigkeit hat. Scheibe nennt das Improvisationstheater auf musikalischer Ebene oder Wunschkonzert.

Es ist ihm, dem Meister der Einfälle und Fantasie, auf den Leib geschnitten. Weil er nicht nur als Komponist, sondern in seinem ganzen Wesen einer ist, der es liebt, aus dem Moment heraus das gerade Naheliegende zu tun. Zu improvisieren eben. Das tut der 50-Jährige regelmäßig im Imperial Theater mit seiner Show „Play-Boy!“, in der die Gäste bestimmen, was gespielt wird, und aus einem seichten Schlager schnell mal ein grooviger Reggae wird. Das tut er als Komponist im heimischen Studio im Stadtteil Hoheluft, wenn er aus einer seiner 500 Millionen Ideen einen neuen Song kreiert. Und auch dann, wenn er mit seinen rockigen Senioren vom Heaven-can-wait-Chor für die Auftritte im St. Pauli Theater übt. Die 32 Sänger und Sängerinnen sind zwischen 70 und 87 Jahre alt. Und manchmal braucht es unkonventionelle Ideen und viel Improvisationstalent, um die Oldies davon zu überzeugen, dass ihnen Songs jüngeren Datums wie Westernhagens „Sexy“ oder Coldplays „Viva la vida“ besser stehen als Hans Albers’ „Fledermaus“.

Er kann mitreißen. Weil er Fantasie hat. Und eine Menge Humor. Weil er die Dinge mit Gelassenheit nimmt. Sich manchmal wie ein Kind begeistern kann. Und spontan ist. Er mag es nicht, mit einem festen Plan in eine Situation zu dringen. Weil man dann meistens viel kaputt mache. „Wenn man sich allerdings von einem Plan verabschiedet und sich anpasst, laufen die Dinge von allein.“ Das hat Jan Christof Scheibe schon früh festgestellt. Und so hat er es stets vermieden, sich an einer Sache festzubeißen, sondern die Dinge einfach auf sich zukommen lassen, ohne sich dabei selbst zu verlieren.

Mit Channel Five bringt er drei LPs raus, der große Durchbruch aber bleibt aus

Dass sein Plan, keinen Plan zu haben, planmäßig funktioniert, zeigen seine Erfolge. Die Liste ist lang. Sie beginnt Anfang der Achtziger mit einer Reise nach Südfrankreich. Mit ein paar Schulfreunden kauft er sich einen ausgedienten Schlachterwagen und ein Reiseklavier. Die Jungs machen sich auf den Weg nach St. Tropez.

Es war eine prägende Erfahrung zu sehen, was Musik mit Menschen machen kann. „Sie ist eine geheimnisvolle Sprache, die es mir ermöglicht, in Kontakt zu treten mit Emotionen“, sagt er. Vor den Cafés an der Promenade fühlt er sich wie ein Zauberer, der die Umwelt in seinen Bann zieht. „Wir waren damals als Straßenmusiker etwas ganz Besonderes“, erinnert er sich. Damals.

Heute sei alles anders. Überall sei Musik. Die Leute haben ihre Ohren zugestöpselt, in den Händen ihre Smartphones. In Läden, Einkaufscentern, Supermärkten trällert es aus den Lautsprechern. Das ermattet, findet Scheibe. „Die Menschen sind wahnsinnig satt. Und Sattsein macht müde.“

Er ist es nicht. Weil er immer etwas Neues auf die Beine stellt. Nach dem Abitur schreibt er seine ersten Bühnenstücke, initiiert Hamburgs erste professionelle Funkband SPIKE. Sie schicken ein Demoband an die legendäre Kneipe Onkel Pö. Kurze Zeit später werden sie zur Hausband des Ladens. Parallel beginnt der damals 21-Jährige ein Studium an der Musikhochschule bei Felix-Eberhard von Cube. Ein Jahr später steigt er als Keyboarder in die Band Channel Five ein. Ihre Musik kommt an. Drei LPs gehen auf den Markt, die Band tourt quer durch Deutschland. Scheibe genießt es, dass die Mädchen Schlange stehen und die „Bravo“ am Kult mitbastelt. Aber er hat auch Angst. Bald, denkt er, kann ich nicht mehr über die Straße gehen, ohne erkannt zu werden. Noch einmal startet er mit ein paar Freunden auf eine Straßenmusiktournee. Nur den ersten Tank spendieren sie aus ihren Ersparnissen. Den Rest der Reise erspielen sie mit ihrer Musik.

Zurück in Hamburg bleibt der Durchbruch mit Channel Five aus. Die nächste Platte ist ein Flop. Scheibe macht weiter. Er hat viele Ideen. So viele, dass er sie niemals alle in einem Leben wird umsetzen können. Er schreibt sie auf kleine Zettel, heftet sie ab, damit sie nicht verloren gehen. Es ist ein Fundus, aus dem er schöpfen kann.

Das Ende der Band ist ein Rückschlag. Aber auch eine Chance. So sieht der Musiker das. Grundsätzlich sei es doch eine Sache der Einstellung, ob man eine Niederlage als Ende oder als Möglichkeit für einen Neuanfang sehe, sagt er. Armbrüche, Beziehungsbrüche, Zusammenbrüche, natürlich habe es die bei ihm auch gegeben. „Aber alles, was im Leben schrecklich ist, benutze ich als Modellmasse, um daraus zu modellieren. Die Richtung bestimme ich.“ Es gebe eben kein Leben Happy-go-lucky. Aber genauso wenig ein Leben, das nur Tragödie sei. Die Wahrheit liege in der Mitte. „Und Tiefgänge gibt es im Leben nur, wenn die Schaufel der negativen Dinge auch ein paar Spatenstiche hat setzen dürfen.“

Also Schluss mit der Band. Neue Projekte müssen her. Scheibe beginnt Filmmusik zu schreiben, unter anderem für „Schulz und Schulz“ mit Götz George. Es kommen Aufträge für Theaterstücke und Musicals. Er tourt zu Proben durch Europa, mal als Musiker, mal als Regisseur. Und wenn er Zeit zum Luftholen hat, schaut er auf seine Zettel und denkt: „O Gott, das muss alles noch raus.“ Anfang der 90er-Jahre produziert er die erste Sissi-Perlinger-CD. Es ist der Beginn einer engen Zusammenarbeit. Gemeinsam feiern die Entertainerin und der Musiker große Erfolge. Doch bei Scheibe ist es immer das Gleiche. Der Ansporn für etwas Neues kommt bereits, während er noch mitten in einer Sache steckt. 1998 feiert seine erste eigene Bühnenshow im Imperial Theater Premiere. Ihr Titel „Zu viel Sex ist gar nicht gesund“. Seitdem bringt er in regelmäßigen Abständen neue Soloprogramme auf die Bühne. Derzeit arbeitet er an einem Projekt über den Sinn des Lebens. Über den Dialog mit sich selbst. Den Dialog mit Gott, wie er sagt. „Gott ist für mich ein wohlwollendes, dem Leben zugewandtes Prinzip, das Regeln vorgibt, die man einhalten kann oder nicht“, sagt er.

Mehr will er nicht verraten. Nur so viel, dass es diesmal um ein schweres Thema gehe, das er aber auf leichte Art serviere, weil er schwere Kost nicht vertrage. Parallel dazu will er mit seinem „Heaven-can-wait-Chor“ weiterarbeiten. Einen Auftritt haben sie noch, am 4. Mai im St. Pauli Theater. Dann geht es erst im Herbst weiter. Derzeit suchen sie nach Möglichkeiten, mit dem Programm auch in anderen Städten zu gastieren. Scheibe will das Projekt ganz groß aufziehen, nicht nur weil es gut bei den Zuschauern ankommt, sondern weil es ihm ganz besonders viel Freude macht, mit den älteren Menschen zu arbeiten. Es sei irgendwie auch ein Stück soziales Engagement, das er hier ausleben könne. Und das, was man bei der Arbeit mit Menschen zurückkriege, sei von unschätzbarem Wert.

Er hat das schon einmal so intensiv empfunden. Damals war er 18. Er hatte eine Arbeit als Zivildienstleistender in einer Tagesstätte für Schwerstbehinderte. Diese Zeit sei die unbeschwerteste seines Lebens gewesen, sagt er heute. „Es hat mich nie die Frage stellen lassen, ob ich morgens aufstehen soll. Ich wusste, die Welt braucht mich. Ich war gefordert. Ich war nötig.“ Er hätte dort beruflich anknüpfen können, er hätte Lehrer werden können, Pädagoge, aber die Musik ließ ihn nicht los. Sie war eben schon immer da. Als Sohn eines Kirchenmusikers und einer Chorleiterin ist ihm die Welt der Töne quasi in die Wiege gelegt worden.

Mit drei Jahren holt ihn sein Vater ans Klavier. Der Junge lehnt es ab zu üben. In seinem ersten Notenheft zeichnet sich noch heute der Abdruck seiner Milchzähne ab. „Ich habe damals vor Wut ins Heft gebissen.“ Er wehrt sich gegen das Musizieren nach Plan. Aber spielen – und improvisieren – das will er. Bis zum Konzertpianisten reicht es nicht. Seine Fantasie ist die größere Begabung als das motorische Reproduzieren von bereits Gedachtem. Also komponiert er. Und wenn er das nicht tut? Dann fährt er mit Freundin und Tochter ins Alte Land oder in den Jenischpark, spielt Fußball und lässt die Seele baumeln. Aber nur für ein paar Stunden. Er braucht nicht viel Entspannung. Oder um es mit Scheibes Worten zu sagen: „Ich bin eher spannend, als entspannend.