Nach General Paul Emil von Lettow-Vorbeck, der vor 50 Jahren in Hamburg starb, wurden Kasernen, Straßen und sogar Schulen benannt. Alexander Schuller schildert, wie sein Mythos vom ritterlichen Soldaten entstand – zu Unrecht

Es ist ein umgekipptes Fass mit stinkendem Fleischbrei, das am 23. Juni des Jahres 1919 derart schwere Unruhen auf Hamburgs Straßen auslöst, dass der Senat sich vier Tage später nicht mehr anders zu helfen weiß, als die Regierung in Berlin um Unterstützung zu ersuchen.

Der Erste Weltkrieg ist vor nicht einmal einem Jahr mit einer schmachvollen Kapitulation zu Ende gegangen, in der jungen Weimarer Republik herrschen alles andere als demokratische Verhältnisse, das Volk hungert und murrt. Das Gerücht, die Fleischfabrik Heil & Co. verarbeite Marder, Ratten, Katzen und verschimmelte Kadaver, verbreitet sich in rasender Geschwindigkeit. Schon verwüstet eine aufgebrachte Menge das Kriegsversorgungsamt, weil dieses die unhygienische Sülzeproduktion nicht verhindert habe, Arbeiter der Fleischwarenfabrik werden gelyncht. Am 27. Juni stürmt der Mob das Rathaus, das Hamburger Untersuchungsgefängnis sowie das Polizeigefängnis in Altona. Daraufhin entsendet Reichswehrminister Gustav Noske 10.000 Soldaten in die Hansestadt.

Am 1. Juli rücken schwer bewaffnete Reichswehrtruppen und Freikorps in Hamburg ein, an der Spitze Deutschlands berühmtester General, Paul Emil von Lettow-Vorbeck, der ehemalige Kommandeur der „Schutztruppen“ in „Deutsch-Ostafrika“. Er soll gegen die Aufständischen vorgehen und die volle Regierungsgewalt wiederherstellen.

Die konservativen Zeitungen wie etwa die „Hamburger Nachrichten“ jubeln: Die Truppen gäben „ein strammes militärisches Bild ab, das uns Freude macht“. Das liegt vor allem auch am Kommandeur, der seinen Auftrag kompromisslos ausführen lässt. Am Ende sterben etwa 80 Menschen, darunter viele Unbeteiligte. Die Zivilbevölkerung wird entwaffnet, vermeintlich linke Rädelsführer werden festgenommen, von denen jedoch die meisten aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden müssen. Zwei lange Monate hatte der Belagerungszustand gedauert.

Was in der heilschen „Delikatess-Sülze“ tatsächlich verarbeitet wurde, wird zwar geklärt werden können, aber die Niederschlagung der „Hamburger Sülzeunruhen“ festigte den Mythos des Generals Lettow-Vorbeck, der am 20.März 1870 im preußischen Saarlouis geboren wurde, am 9. März 1964 in Hamburg starb und in Pronstorf bei Bad Segeberg mit militärischen Ehren beigesetzt wurde.

Die Bundesregierung ließ damals von der Bundeswehr sogar zwei ehemalige „Askari“ (die afrikanischen Soldaten der deutschen Kolonialtruppen) einfliegen, damit sie „ihrem“ General die letzte Ehre erweisen konnten. Bundeswehr-Offiziere hielten Ehrenwache, und der damalige Verteidigungsminister, der CDU-Politiker Kai-Uwe von Hassel (†1997), hielt eine Trauerrede, die in der Feststellung gipfelte, „von Lettow-Vorbeck ist im Felde wahrlich unbesiegt gewesen“.

Damit war der Guerillakrieg gemeint, den Lettow-Vorbeck vier Jahre lang gegen die vielfach überlegenen Alliierten im Osten des afrikanischen Kontinents geführt hatte und dem mindestens 700.000 Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen. Seine ihm angeblich so treu ergebenen Askari gaben ihm den Beinamen „der Herr, der unser Leichentuch schneidert“. Von ihnen fielen rund 100.000 im Kampf. Als „der Löwe von Afrika“ erst am 25. November 1918 die Waffen streckte, hatte er zwar sein Ziel verfehlt, „militärische Kräfte zu binden und die deutschen Truppen an der Westfront in Belgien und Frankreich zu entlasten“, doch fortan galt er als Held – bis weit ins dritte Jahrtausend hinein. Nach Lettow-Vorbeck wurden zahlreiche Schulen, Straßen und gleich drei Kasernen der Bundeswehr benannt. Sogar ein Fossil, das die „Tendaguru-Expedition“ 1919 ausgegraben hatte trägt seinen Namen: „Dysaloto saurus lettowvorbecki“.

Erst als der Historiker Uwe Schulte-Varendorff im Jahre 2006 in seiner kritischen Biografie „Kolonialheld für Kaiser und Führer“ nachwies, dass der „ritterliche General“ in Wahrheit ein überzeugter Antidemokrat, Rassist und Antisemit gewesen war, der aktiv am Kapp-Putsch beteiligt war und nach seinem erzwungenen Abschied aus der Reichswehr in Vorträgen und Büchern den deutschen Anspruch auf Kolonien erhob. Auch seine spätere „Distanzierung dem NS-Regime gegenüber beschränkte sich lediglich auf das militärische Versagen Hitlers“, schrieb Schulte-Varendorff.

Dennoch dürfte es wohl noch Jahre dauern, bis es sich auch in die letzten Winkel der deutschen Provinz herumspricht, dass Lettow-Vorbeck kein „harter, aber fairer Kolonialoffizier“ gewesen ist, der zum Namenspatron einer demokratischen Armee taugt. Immerhin: Sein 50. Todestag blieb praktisch unbemerkt.