Vor 400 Jahren wurde im Johannis-Kloster das Akademische Gymnasium eröffnet. Matthias Schmoock erinnert an den Vorläufer der Hamburger Universität.

Verstreut hängen in der Hamburger Universität einige Porträts, mit denen Studenten von heute nicht mehr viel anfangen können. Sie zeigen unter anderen den Philologen Johann Christian Wolf, den Theologen und Orientalisten Johann Christoph Wolf und den Professor für Physik und Poesie, Michael Kirstenius. Diese seit Jahrhunderten toten Männer haben eines gemeinsam: Sie unterrichteten an Hamburgs Akademischem Gymnasium – einer einst hoch angesehenen Bildungseinrichtung, die heute ziemlich vergessen ist.

Eröffnet wurde sie im August vor 400 Jahren. Eine feierliche Prozession zog damals in die neuen Räume ein, angeführt von Bürgermeister Vincent Moller, der auch die Festansprache hielt und die ersten Professoren in ihr neues Amt einführte. Das Akademische Gymnasium war in einem zwischen 1611 und 1613 errichteten Anbau des Johanneums untergebracht. Die 1529 gegründete „Gelehrtenschule“ befand sich damals im ehemaligen Johannis-Kloster, ungefähr dort, wo heute der Rathausmarkt liegt. Beide Bildungseinrichtungen waren nicht nur räumlich miteinander verzahnt. Das „Gymnasium illustre“ war sozusagen das Scharnier zwischen dem Johanneum und einer der Universitäten im Land. Wer im frühen 17. Jahrhundert studieren wollte, konnte sich zwischen Jurisprudenz, Medizin und Theologie entscheiden. Die Fächer der philosophischen Fakultät (Artes liberales), darunter Rhetorik, Astronomie, Geometrie und Musik, waren damals noch nicht gleichberechtigt, sondern den drei höheren Fakultäten quasi vorbereitend untergeordnet (propädeutisch). An den Universitäten waren philosophische Kenntnisse zwar obligatorisch, die regulären Gymnasien hatten sie aber oft nur ansatzweise vermittelt. Als Folge ergab es sich, dass viele Sprösslinge des Hamburger Bürgertums mit dem Bildungsangebot in ihrer Heimatstadt unzufrieden waren und, wie es in einer zeitgenössischen Quelle heißt, „die Meinung hegten, das Johanneum reiche, bey seiner damaligen Beschaffenheit und inneren Einrichtung, bey weitem nicht hin, um ihnen eine gehörige Vorbereitung zur Universität zu gewähren (...).“

Die neue Einrichtung sollte dazu beitragen, dass „die hiesigen Bürgerkinder nicht zu früh nach Akademien geschickt, sondern allhier fleißig exercirt würden, theils auch deshalb, damit, wenn die studierenden Jünglinge nach Akademien kämen, dieselben sich nicht lange mit Philosophicis aufhalten dürften, und vielmehr sofort ad Facultas schreiten könnten“. So stellte es der Rat mit typisch hanseatischem Pragmatismus fest. Ein weiterer Grund für die Errichtung: Schon damals schlief die Konkurrenz nicht, und talentierte Hamburger wurden nach Stade oder Bremen gelockt, wo es bereits Akademische Gymnasien gab. Die Errichtung einer solchen voruniversitären Einrichtung in Hamburg erfolgte entsprechend auch, um förderungswürdigen Nachwuchs in der Stadt zu halten. Der wurde nun also innerhalb von zwei Semestern mit Vorlesungen in den Artes liberales auf ein theologisches, juristisches oder medizinisches Studium vorbereitet.

Mit dem Akademischen Gymnasium, das lange Zeit Mittelpunkt des wissenschaftlichen Lebens in Hamburg war, sind die Namen vieler Gelehrter verbunden, die über ein schier unerschöpfliches Wissen verfügten. Joachim Jungius, Hermann Samuel Reimarus, Johann Georg Büsch oder Michael Richey waren kosmopolitisch gebildet und genossen hohes Ansehen in der Stadt. Heute erinnern vor allem Straßennamen an ihr Wirken.

In den Genuss der Vorlesungen kamen indes nur wenige. Im 17. Jahrhundert immatrikulierten sich 35 junge Männer pro Jahr, von denen allerdings etliche über die zwei Semester hinaus blieben. Das erste Jahrhundert seines Bestehens war das erfolgreichste der neuen Bildungseinrichtung: Insgesamt 1930 Gymnasiasten waren eingeschrieben – alleine 623 während der 28-jährigen Rektorzeit von Joachim Jungius (1629 bis 1657).

Seit dem späten 18. Jahrhundert ging es mit den Anmeldungen allerdings deutlich bergab. Meist gab es einstellige Einschreibezahlen, und oft kamen auf die fünf Professoren nur vier bis sechs immatrikulierte Gymnasiasten. Vor dem Hintergrund der Aufklärung hatte es zwischen 1790 und 1830 in allen deutschen Einzelstaaten durchgreifende Universitätsreformen gegeben. Im Zuge dieser Entwicklung erlangte die Philosophische Fakultät an den Universitäten schließlich ihre Gleichberechtigung und war nicht länger obligatorische Vorstufe für die anderen Fakultäten. Damit verloren auch die akademischen Gymnasien ihre Funktion.

Im Mai 1883 wurde das Akademische Gymnasium per Gesetz aufgelöst. Alle Versuche, es durch Reformen und neue Zielsetzungen attraktiver zu machen, waren letztlich gescheitert. Rund 3000 Studenten hatten es seit seiner Gründung durchlaufen. Fortan verpflichtete man die Direktoren aller wissenschaftlichen Anstalten Hamburgs, „zur Weiterbildung und Verbreitung der Wissenschaft“ regelmäßig Vorlesungen abzuhalten. Die Wissenschaftler verließen den Elfenbeinturm immer schneller, das allgemeine Vorlesungswesen, das für uns heute selbstverständlich ist, erlangte zunehmend größere Bedeutung.

Als Hamburgs Universität – letztlich als Nachfolgeorganisation – im Mai 1919 endlich eröffnet wurde, sagte der Nationalökonom Karl Rathgen in seiner Rede, dass das Akademische Gymnasium „verdorren musste“, als „die Organisation des Studiums in Deutschland allgemeingültige Formen annahm“. Es sei schließlich den „Erschöpfungstode“ gestorben.

Noch im Mai 1840 waren Johanneum und Akademisches Gymnasium in einen Neubau auf dem Domplatz am Speersort umgezogen. Das schöne, U-förmige Gebäude im Stil der florentinischen Spätrenaissance beherbergte auch die Stadtbibliothek. 1943 zerstörte es ein Bombenangriff, unersetzbare Kulturschätze gingen damals verloren. Die Ruine wurde später abgerissen, die Orte, an denen sich Hamburgs „Gymnasium illustre“ einst befand, sucht man heute vergeblich.