Der Prozess des Jahres: 600 Seiten dick ist die Anklageschrift, 40 Verhandlungstage sind geplant: Andreas Dey rekonstruiert die dubiosen Transaktionen, deretwegen sechs frühere Vorstände vor dem Richter stehen.

Wenn die sechs Angeklagten am Mittwoch, den 24. Juli, um 10 Uhr im Saal 300 des Strafjustizgebäudes vor den Richter Marc Tully treten, dann wird Otto Normalverbraucher erst einmal nur Bahnhof verstehen. Dann wird es um BNPP und FIG, um RWA, CDS, STCDO und allerhand anderes unverständliches Zeug gehen.

Übersetzt aus der Sprache der großen Finanzwelt in unsere, will das Gericht aufklären, warum der damalige Vorstand der HSH Nordbank – Hans Berger, Jochen Friedrich, Dirk Jens Nonnenmacher, Hartmut Strauß, Peter Rieck und Bernhard Visker – Ende 2007 ohne eingehende Prüfung das hochkomplexe und aus Sicht der Anklage völlig unnütze Geschäft Omega 55 abgeschlossen hat, das der HSH und damit letztlich auch den Steuerzahlern in Hamburg und Schleswig-Holstein mehr als 150 Millionen Euro Verlust eingebrockt hat. Und es geht um die Frage, ob Friedrich und Nonnenmacher die Folgen des Omega-Deals falsch dargestellt haben – gemeinhin „Bilanzfälschung“ genannt.

Mehr als zwei Jahre lang hat die Staatsanwaltschaft ermittelt, hat Dutzende Zeugen verhört, die Wohnungen der Beschuldigten durchsucht, eine mehr als 600 Seiten starke Anklageschrift verfasst. Fast eineinhalb Jahre prüfte daraufhin das Gericht den Fall, bevor es nun den Prozess eröffnete und 40 (!) Verhandlungstermine bis Anfang 2014 festlegte – allein diese nüchternen Fakten rechtfertigen die Feststellung: Es wird ein großer, ein spektakulärer Prozess.

Dabei geht es noch um viel mehr als um ein verlustreiches Geschäft und eine falsche Bilanz. Entlang dieser Gerichtsverhandlung wird auch die Frage zu diskutieren sein, was unsere Banken da eigentlich getrieben haben bis zur Pleite der US-Bank Lehman Brothers 2008, die die globale Finanzkrise auslöste. War das nur grenzenlos optimistisch? Naiv? Größenwahnsinnig? Gar illegal? Von allem etwas? Haben die Banken noch die ihnen ursprünglich zugedachte Rolle als Finanziers der Wirtschaft wahrgenommen? Oder hatten sie sich längst ihre eigene Welt erschaffen, mit ganz eigenen Regeln, nach denen ein scheinbar absurdes Kreislaufgeschäft wie Omega eben völlig normal war? Und kommt nun ein Gericht „im Namen des Volkes“ auch zu dem im Volk weit verbreiteten Urteil, dass das doch nicht mehr normal war, dass es vielleicht sogar strafbar war? „Dieses Verfahren hat schon eine gewisse historische Bedeutung“, sagt der Hamburger Rechtsanwalt Gerhard Strate, der mit seinen Anzeigen 2009 die Ermittlungen angestoßen hat. „Es ist meines Wissens das erste Mal, dass ein kompletter Bank-Vorstand für sein Verhalten oder Fehlverhalten vor der Finanzkrise strafrechtlich belangt wird.“

Doch selbst das ist nicht alles. Denn dieses Verfahren hat noch eine weitere, eine dritte Dimension, die es dann endgültig zum Prozess des Jahres in Hamburg machen wird, vielleicht des Jahrzehnts. Im Strafjustizgebäude am Sievekingplatz geht es auch um die tragische Geschichte eines Mannes, den einige für ein Genie halten, für den Retter der HSH Nordbank, dem die Steuerzahler aus Dankbarkeit ein Denkmal bauen sollten – und der für andere ein Hassobjekt wurde, das Gesicht und der Inbegriff der bösen Finanzbranche: Dirk Jens Nonnenmacher, wegen seines Unterschriftenkürzels, seiner zurückgegelten Haare und seiner Vorgeschichte als Mathematikprofessor „Dr. No“ genannt.

„Nonnenmacher ist das perfekte Feindbild, er ist wie ein Abziehbild der Finanzbranche“, sagt ein Prozessinsider. Er habe auch ein wenig den Eindruck, dass die Staatsanwaltschaft sich von dem Wunsch der Öffentlichkeit und der Politik habe antreiben lassen, einen Schuldigen zu finden „für den ganzen Mist bei der HSH Nordbank“. Und dafür tauge halt niemand so gut wie „Dr. No“, der Namensvetter des legendärsten aller James-Bond-Bösewichte. Nonnenmacher habe sich durch sein arrogantes und misstrauisches Auftreten selbst zum Feinbild aufgebaut, meint auch ein anderer beteiligter Jurist. „Andererseits tut er mir fast leid“, denn mit dem Omega-Deal, der nun die Grundlage für den Prozess ist, habe Nonnenmacher ja nur am Rande zu tun gehabt.

Zumindest vom Zeitablauf her beginnt die Geschichte von Dirk Jens Nonnenmacher, der HSH Nordbank und Omega relativ parallel im Herbst 2007. Am 1. Oktober kommt der damals 44-Jährige von der DZ Bank als neuer Finanzvorstand nach Hamburg. Der promovierte Mathematiker soll das reichlich unterentwickelte Risikomanagement der HSH mit Blick auf den für 2008 geplanten Börsengang ausbauen. Eine Bank fit machen für die Börse , das ist die Aufgabe, die Nonnenmacher reizt. Doch es geht von Anfang an in eine andere Richtung.

Da es erste Anzeichen für eine Finanzkrise gibt, stoppt die HSH ihr mächtig aufgeblähtes Kreditersatzgeschäft – also jene Transaktionen abseits des klassischen Bankgeschäfts, die viel mehr Rendite versprechen als ein Firmenkredit. Außerdem sucht sie nach Möglichkeiten, diese Risiken („risk weighted assets“ – kurz RWA) auszulagern, um weniger Eigenkapital zu binden. Auch Omega 55 wird so eine RWA-Entlastung – zwar nur eine von Hunderten, die die HSH und andere Banken durchgeführt haben, aber dennoch wird sie bundesweit zum Sinnbild für ein Geschäft, das sich wohl nur jemand ausdenken und für unkritisch halten kann, der sein Finanzmarkt-Raumschiff seit Jahren nicht mehr verlassen hat.

Initiiert wird der Deal vom FIG, dem Geschäftsbereich Financial Institution Group der HSH-Filiale London, gemeinsam mit der französischen Großbank BNPP (Banque National de Paris Paribas). Omega 55 besteht aus einem A- und einem B-Teil und läuft nach Darstellung der Anklage folgendermaßen ab: In Teil A transferiert die HSH ein Portfolio in Höhe von 1,963 Milliarden Euro (davon drei Viertel riskante Immobilienkredite) in die dafür auf der Kanalinsel Jersey gegründete Zweckgesellschaft Matthias Ltd. Für dieses Portfolio stellt BNPP eine Kreditausfallversicherung (Credit Default Swap – kurz CDS) zur Verfügung. So weit ein nicht unüblicher Vorgang, mit dem die HSH-Bilanz um 128 Millionen Euro entlastet werden soll – allerdings nur zum Bilanzstichtag 31. Dezember 2007, denn am Tag darauf treten die neuen Bankenregeln Basel II in Kraft, nach denen solche Deals nicht mehr möglich sind. Geht es den Angeklagten also, wie die Staatsanwaltschaft meint, womöglich nur darum, mit Blick auf den Börsengang und die Bewertung durch die Ratingagenturen an einem Stichtag vor den Augen der Öffentlichkeit gut dazustehen? Selbst der damalige HSH-Aufsichtsratsvorsitzende und frühere Hamburger Finanzsenator Wolfgang Peiner schreibt später in seinem Buch „Handeln für Hamburg“ über Omega: Unabhängig von der rechtlichen Würdigung sei es ihm „ein Rätsel, warum der Vorstand diese Geschäfte zu diesem Zeitpunkt getätigt hat“.

Das eigentliche Problem ist aber Teil B, denn – und da wird es absurd – mit ihm nimmt die HSH die ausgelagerten Risiken und einiges mehr im Prinzip wieder zurück. Das geht so: Sie stellt der von BNPP eingerichteten Zweckgesellschaft Omega Capital Ltd. eine „Liquiditätsfazilität“, also eine Kreditlinie, über zwei Milliarden Euro zur Verfügung und übernimmt zusätzlich von der BNPP Risiken in Höhe von 400 Millionen Euro aus einem STCDO (Single Tranch Collateralized Debt Obligation), einem undurchschaubaren synthetischen Finanzprodukt, das die Franzosen gern auslagern wollen. Dutzende Irrungen und Wirrungen weiter bleibt die HSH nach Beendigung des Omega-Deals (Teil A in 2008, Teil B in 2010) auf einem Verlust von 145 Millionen Euro und weiteren Kosten in Höhe von 12,4 Millionen Euro sitzen – insgesamt reißt Omega also ein 157-Millionen-Euro-Loch in die HSH-Kasse.

Abgesehen vom finanziellen Reinfall überfordert die Komplexität des Deals offenbar auch bankintern einige. So mailt ein Londoner HSH-Mitarbeiter im Oktober 2008 mit Blick auf drohende Verluste und den Umgang mit Omega an seine Vorgesetzten: „Was machen wir nun damit? Ich brauche Hilfe.“

Belastend für die Angeklagten kommt hinzu, dass das Geschäft innerhalb weniger Tage durchgezogen wird. Am 14. Dezember 2007 legen die FIG-Leute laut Klageschrift den ersten Kreditantrag vor, am 17. Dezember macht Peter Rieck als zuständiger Immobilienvorstand die Sache zum „Eilbeschluss“, noch am gleichen Tag unterzeichnet Strauß, am 19. dann Nonnenmacher, Visker und Vorstandschef Berger, und am 20. Dezember schließlich Jochen Friedrich als Zuständiger für die Londoner Niederlassung. Selbst HSH-interne Papiere betonen, dass die Zeit für eine Prüfung des Geschäfts „inakzeptabel kurz“ war.

Unterm Strich bleibt für die Anklage also ein undurchschaubares, unnützes, im Eiltempo durchgepeitschtes Kreislaufgeschäft, das in einem ziemlichen Desaster endet. Ist das, alles zusammengenommen, nun „Untreue in einem besonders schweren Fall“, wie die Staatsanwaltschaft meint? Und rechtfertigt es eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren? Oder ist es nur ein übliches Bankgeschäft, das halt schiefgegangen ist? Die Antwort des Gerichts wird für die deutsche Bankenszene wegweisend sein, so oder so. Nonnenmacher plädierte in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt übrigens einst für eine Relativierung der Vorwürfe; er wolle nicht in eine Reihe gestellt werden „mit Leuten, die Milliarden versenkt haben. Da fühle ich mich falsch positioniert.“ Tatsächlich hat Omega 55 für Finanzkrisen-Verhältnisse eine relativ kleine Dimension.

Aber da ist ja auch noch der Vorwurf der Bilanzfälschung. Nonnenmacher und Friedrich wird als fachlich zuständigen Vorständen zur Last gelegt, dass Omega 55 zu allem Überfluss auch noch falsch verbucht wurde und dadurch 2008 in einem Quartalsbericht und in einer Pressemitteilung der Bank ein Überschuss von 81 Millionen Euro ausgewiesen wurde statt eines Verlusts von 31 Millionen. Nonnenmacher hatte den Fehler vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft 2010 im Prinzip eingeräumt, aber jeglichen Vorsatz mit einem schon legendären Satz von sich gewiesen: „Eine falsche Bilanz ist keine gefälschte Bilanz.“ Womit er im juristischen Sinn natürlich recht hatte, sonst könnte man sich den Prozess in dieser Hinsicht ja sparen. Andererseits war es ein typischer „Dr. No“-Satz, der die Kluft zwischen seiner Welt und der normalsterblicher Abgeordneter offenbarte. Sein Anwalt Heinz Wagner drückte es damals deutlicher aus: „Der Vorwurf der Bilanzfälschung ist absurd.“

Ob das Gericht sich überhaupt mit beiden Anklagepunkten – Untreue und Bilanzfälschung – beschäftigen oder sich auf einen konzentrieren wird, gilt als offen. Allerdings wird in Justizkreisen eine Verurteilung wegen Untreue für wahrscheinlicher gehalten als wegen Bilanzfälschung, wobei die Beteiligten sich dazu bedeckt halten. „Die Verteidigung wird, schon aus Respekt vor dem Gericht, keine Spekulationen über den Gang der Verhandlung anstellen“, sagte zum Beispiel Jochen Friedrichs Anwalt Wolfgang Prinzenberg auf Abendblatt-Anfrage: „Im Übrigen bleibt es dabei, dass mein Mandant und seine ehemaligen Vorstandskollegen die Bank nie geschädigt haben.“ Ähnlich weisen auch die anderen Angeklagten die Vorwürfe zurück.

Ohnehin ist der materielle Schaden, über den nun verhandelt wird, aus HSH-Sicht eine vernachlässigbare Größe. Als Nonnenmacher Ende 2008 Vorstandschef wurde, hatte die Nordbank eine Bilanzsumme von gut 200 Milliarden Euro. Bei dem Rettungspaket, das er Ende 2008/Anfang 2009 wegen der enormen Verluste infolge der Finanzkrise unter Hochdruck schmieden musste, ging es um 13 Milliarden Euro von den Ländern Hamburg und Schleswig-Holstein – das erklärt zumindest teilweise, warum Nonnenmacher in dieser Zeit auf Sympathiepunkte wenig Wert legte und zumindest zwischen den Zeilen zu verstehen gab, er habe weiß Gott Wichtigeres zu tun, als sich um geltungssüchtige Politiker und die öffentliche Aufregung um vergleichsweise kleine Fische wie Omega zu kümmern.

Für den Vorstandschef einer schlingernden und quasi öffentlichen Bank eine Haltung, die nur ins Verderben führen konnte. Tatsächlich entwickelten Politik, Medien und auch Unbeteiligte wie der Anwalt Gerhard Strate einen enormen Ehrgeiz, auch noch die letzte Moorleiche aus dem HSH-Sumpf ans Licht zu ziehen. Und so kam es, dass sich die Bank unter Nonnenmacher zwar schneller erholte als gedacht, der Vorstandschef selbst aber mehr und mehr entzaubert wurde, aus dem Retter wurde der „meistgehasste Manager“ („Mopo“), aus dem genialen Professor Nonnenmacher der böse „Dr. No“.

Die Bank und ihr Frontmann boten aber auch Stoff für drei Bondfilme. Ob undurchsichtige Deals wie Omega, Shisha oder St. Pancras, einen 2,9-Millionen-Euro-Bonus für Nicht-Kündigung, fingierte Vorwürfe gegen leitende Mitarbeiter oder die geheimdienstartigen Aktivitäten der Sicherheitsfirma Prevent – die HSH lieferte Schlagzeile um Schlagzeile. Am Ende stolperte Nonnenmacher nicht über einen einzigen Skandal, sondern über die Masse der Vorwürfe – Ende März 2011 war Schluss für ihn bei der HSH Nordbank. Natürlich lief auch das nicht ohne ein letztes Aufsehen ab: Fast vier Millionen Euro Abfindung sollte Nonnenmacher erhalten – und zwar, wie später herauskam, auch für den Fall einer rechtskräftigen Verurteilung.

Zwar wurde dieser Vertrag Anfang 2013 auf Druck der HSH-Eigner Hamburg und Schleswig-Holstein dahingehend geändert, dass eine Verurteilung nun doch zur Rückforderung der Abfindung berechtigt. Allerdings, und damit sind wir wieder am Ausgangspunkt der Geschichte, gilt diese Klausel gar nicht für die Omega-Geschäfte. Im nun anstehenden Gerichtsverfahren geht es nämlich mitnichten um die gesamte HSH-Vergangenheit, sondern eben nur um zwei ganz konkrete Vorwürfe. Daneben laufen nach wie vor weitere Ermittlungsverfahren gegen Nonnenmacher und andere HSH-Verantwortliche.

Das ist zum einen der Fall Roland K., eines HSH-Managers in New York. Er wurde im September 2009 von jetzt auf gleich abserviert, weil man in seinem Büro angeblich Hinweise auf Kinderpornografie gefunden hatte. Den US-Ermittlern kam das jedoch spanisch vor, die Spuren stellten sich als fingiert heraus – fortan richteten sich die Ermittlungen gegen Nonnenmacher und andere Verantwortliche bei der HSH. Auch die Hamburger Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren ein – es läuft nach wie vor.

Und dann ist da noch der Fall Frank Roth. Auch der damalige HSH-Vorstand wurde 2009 unter dubiosen Umständen entlassen, angeblich hatte er Geheimnisse verraten. Die Klage der HSH gegen Roth entwickelte sich jedoch rasch zum Bumerang. Die Staatsanwaltschaft Kiel fand heraus, dass Roth ebenso wie Roland K. eine Falle gestellt worden war. Der Ex-Vorstand wurde rehabilitiert und erhielt, ebenso wie der US-Manager, eine Millionen-Abfindung. Seitdem ermittelt die Kieler Staatsanwaltschaft gegen Nonnenmacher und Wolfgang G., den früheren Justiziar der Bank. „Wir sind schon sehr weit“, sagte Oberstaatsanwältin Birgit Heß dem Abendblatt. Ob es zu einer Anklage kommen werde, sei aber noch offen.

Fest steht hingegen, dass einzig eine Verurteilung im Fall Roth Nonnenmacher die Abfindung kosten könnte – so wurde es Anfang 2013 vereinbart. Für die HSH und ihren Ex-Chef wäre dieser Prozess wohl noch unangenehmer. Denn dann ginge es nicht mehr um RWA, BNPP und CDS, sondern um etwas, das die Öffentlichkeit gemeinhin noch viel mehr interessiert: menschliche Abgründe.