Professor Hermann Reichenspurner, Chirurg von Weltrang, stand als Kind auf der Opernbühne, wollte Berufsreiter werden. Die Leidenschaft hat er sich für beides erhalten.

Operationen am offenen Herzen. So um die 4000, schätzt Professor Hermann Reichenspurner, Chef des Universitären Herzzentrums am Klinikum Eppendorf, mögen es inzwischen gewesen sein, an denen er beteiligt war.

Bis dahin war es ein weiter Weg vom Elternhaus im Münchner Stadtteil Berg am Laim bis in die Weltspitze der Herzchirurgie. In der Familie, die eine Drogerie und Parfümerie betrieb, gab es vor ihm keinen Mediziner. Bäcker schon. Und Opernsänger, was dazu führte, dass Reichenspurner im Kinderchor der Bayerischen Staatsoper mitgesungen hat. Bis zum Stimmbruch. Daher rührt seine dauerhafte Liebe zur Oper. Der Junge war auch Military-Reiter, bis hin zu Deutschen Meisterschaften. Bis heute sitzt er gern auf Pferden, bei Freunden oder seinem Bruder am Chiemsee. Doch als er das Reiten zum Beruf ausbauen will, lachen die Eltern.

Acht Jahre jung ist er, als 1967 im Fernsehen von einer bahnbrechenden Tat berichtet wird. In Kapstadt am Groote-Schuur-Krankenhaus ist zum ersten Mal das Herz eines Menschen verpflanzt worden. Der zweite Patient, Philip Blaiberg, dem der südafrikanische Chirurg Christiaan Barnard mit dieser Operation ein neues Leben schenkt, kann das Krankenhaus bereits zu Fuß verlassen.

Als Jugendlicher muss Reichenspurner für eine kleine Operation ins Krankenhaus. Die Welt in Weiß fasziniert ihn, er fragt gleich nach einem Praktikum. Als er dann verkündet, Chirurg werden zu wollen, lacht niemand.

Operationen am offenen Herzen. Wie kommt man dahin? „Durch meine Doktorarbeit.“ Man schlägt ihm zwei chirurgische Themen vor: Nieren- oder Herztransplantation. „Beim Herzen gab es gleich am nächsten Tag eine Operation, bei der Niere hätte ich zwei Wochen warten müssen.“ Die Bilder aus Kapstadt waren nicht vergessen.

1987, zum Beginn seiner Facharztausbildung, folgt er seinem Doktorvater Bruno Reichart nach Südafrika. Ans Groote-Schuur-Krankenhaus. Arbeitet dort auch mit Barnard zusammen, dem Mann, der Medizingeschichte geschrieben hat. Weitere Station: die Stanford-Universität in Kalifornien. Danach kommt die Karriere in Deutschland – Dresden, München, seit 2001 Hamburg.

Er macht nicht den geringsten Versuch, seinen bayerischen Akzent zu unterdrücken. Warum auch? Bayern steckt voller guter Erinnerungen, er fährt noch hin, sooft es geht. Denn ein bisschen vermisst er schon das bayerische Traditionsbewusstsein. Zum Beispiel? „An Christi Himmelfahrt gibt es am Chiemsee einen Gottesdienst im Freien, da kommen alle. Schützenvereine, Trachtenvereine. Das hat, als ich Kind war, genauso ausgesehen wie heute.“ Seine „Lederhosn“, die er bekam, als er 17 war, passt heute noch, er trägt sie beim Oktoberfest.

Lockt ihn der Süden doch? „Einen Ruf nach München hab ich vor drei Jahren abgelehnt.“ Was er in Hamburg mit seinem Herzzentrum geschaffen hat, das Miteinander von Herz- und Gefäßchirurgen und Kardiologen in einem bis hin zur Abrechnung gemeinsamen Kompetenzzentrum, eine einzige Anlaufstelle für alle Menschen mit Herzbeschwerden – „davon ist München gefühlte Lichtjahre entfernt. 25.000 ambulante Patienten profitieren bei uns pro Jahr davon und mehr als 8000 stationäre.“

Reichenspurner ist der Motor dieser Entwicklung. Leitet das Herzzentrum seit 2005. Hat den Förderverein gegründet und in ihm vor allem hanseatische Kaufleute versammelt, die seine Ideen unterstützen. „In Hamburg fragen viele Förderer einfach nur: Wie viel? Und wollen das gar nicht groß verbreitet sehen. Ohne ihre Spenden könnten wir zwar vernünftige Medizin machen, doch für besonders schonendes Operieren, minimalinvasiv mit Endoskopen, fühlt sich niemand so richtig zuständig. Aber wir sind ja keine Privatklinik und wollen auch unsere Patienten nicht finanziell belasten.“

Eine große Veranstaltung macht der Freundeskreis im Jahr, die Gala „Das Herz im Zentrum“. Und kleinere zugunsten von Kinder-Patienten – „Kicken mit Herz“ und „Das kleine Herz im Zentrum“, wo gerade wieder 210.000 Euro eingesammelt wurden. Namen wie Hermann Schnabel, Edda Darboven, Günter Herz, Alexandra von Rehlingen, Manfred Elff und Jonica Jahr-Goedhart fallen. Der Kreis wächst schnell. Denn Reichenspurner bewegt sich gern in der Gesellschaft, pflegt Kontakte, kann begeistern.

Operationen am offenen Herzen. Auch dabei kann man sein Lebensglück finden – wenn der Partner Spezialist auf demselben Gebiet ist. „Wir arbeiten ja beide, unter verschiedenen Gesichtspunkten, an der Lebensader.“ 2004 lernen sich Reichenspurner und Hamburgs gefeierter Ballettintendant John Neumeier kennen. Der Arzt hat da schon etliche seiner Choreografien bewundert, „Emotionen pur mit wunderbarer Musik“. Er stellt sich vor, „und der Herr Neumeier hat geschaut, wie Künstler eben schauen, wenn sie kurz vor einer Aufführung gestört werden“. Nach der Vorstellung ist der Intendant entspannter, man trifft sich. Und reist bald gemeinsam nach Florenz. So wächst eine Partnerschaft, die Anfang 2007, als sie anlässlich eines gemeinsamen Auftretens beim Bühnenjubiläum von Plácido Domingo bekannt wird, nur kurz mediale Wellen erzeugt. „Hamburg ist da sehr offen und dezent. Wir haben nie ein Geheimnis aus unserer Beziehung gemacht, sind aber der Meinung, dass das unser Privatleben ist.“

Reichenspurner sitzt seither noch häufiger im Ballett als früher. Nicht neben Neumeier, der in Reihe eins ganz rechts keine Vorstellung auslässt und schon im Applaus auf dem Sprung hinter die Bühne ist. Aber der Doktor ist in die Ballettfamilie aufgenommen, die Tänzerinnen und Tänzer fragen ihn wegen vieler Wehwehchen um Rat, der Intendant hat ihm im Scherz schon mal vorgeschlagen, hinter der Bühne ein Sprechzimmer einzurichten.

„Wir verbringen viel Zeit miteinander, wenn wir beide in Hamburg sind. Uns verbindet das gegenseitige Verständnis, dass der jeweilige Beruf bei uns eine sehr große Rolle spielt, bei ihm sogar noch mehr als bei mir. Der einzige Unterschied: Ich liebe seine Arbeit. Er schätzt meine, würde aber wohl nicht mit in den OP kommen.“ Und dann sind da die gemeinsamen Urlaube, in Neumeiers Heimat Amerika, am liebsten auf Long Island. Musicals in New York, Oper in Salzburg. Wochenenden auf Sylt, Ausflüge an den Chiemsee, wo sich auch Neumeier wohlfühlt.

Neumeier sitzt im Kuratorium des Fördervereins des Herzzentrums, Reichenspurner in dem der Freunde des Ballettzentrums. Jeder nimmt aus der Arbeit des anderen Ideen und Anregungen mit. Der Arzt schwärmt: „Der Enthusiasmus, mit dem diese jungen Tänzer dabei sind – die spüren schon mit 16 ihre große Verpflichtung und Faszination.“ In beiden Zentren, sagt er, geht es um Leidenschaft für das, was man tut.

Leidenschaftlich bearbeitet er auch sein zweites großes Thema: Organtransplantation. „Es macht mich traurig zu sehen, dass nach den jüngsten Skandalen bei der Zuteilung der Spenderorgane die Spendenbereitschaft zurückgeht – wenn man doch weiß, wie viele Menschen Organe dringend brauchen, um zu überleben.“ In einer Vielzahl von Ehrenämtern setzt er sich dafür ein, dass es da rasch wieder aufwärtsgeht. Er selbst hat den kleinen Organspenderausweis immer in seiner Brieftasche, „na klar“.

„The hearrt is just a pumppp“, hat Herz-Pionier Barnard in seinem harten südafrikanischen Englisch oft gesagt. Nur eine Pumpe? Reichenspurner hat ihm widersprochen: „More than a pump.“ Er denkt dabei weniger an die Zusatzkomplikation emotionalen Herzschmerzes. „Es ist ein hochkomplexes Organ, gesteuert durch Hormone und Nervenfasern, hat einen autarken Antrieb, wie ein kleines Hirn, kann unabhängig vom Gehirn schlagen, die Herzklappen sind sehr diffizil.“

Selbst an einem Herzzentrum, wo pro Jahr über 2000-mal am offenen Herzen operiert wird und 20-mal pro Jahr Herzen verpflanzt werden, hält man den Atem an, wenn die Verantwortung für das Leben von der Herz-Lungen-Maschine wieder auf das Organ übergeht. Wenn gecheckt wird, ob Bypässe und Klappen tun, was sie sollen.

Wie bringt man diesen sehr handwerklich-technischen Part zusammen mit dem menschlichen Mitgefühl? „Das geht sehr schnell, wenn der Patient wieder wach ist und einen anschaut.“ Viel schwieriger ist es, wenn es einem Patienten nach einem Eingriff nicht besser geht. „Wir können leider nicht allen helfen. Wenn es einem Patienten nicht so gut geht, trifft mich das dann auch sehr persönlich.“ Wie gut, sagt er, wenn man dann über Musik und Tanz einen verlässlichen Weg hat, die eigene Balance und Kraft zurückzugewinnen.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbildgelten. Hermann Reichenspurner bekam den Faden von Dirk Lau und gibt ihn an Albert Darboven weiter.