Der Journalist und Aktivist Christoph Twickel streitet gegen die Aufwertung von Hamburger Szenevierteln. Sein Schwert ist das Wort. Porträt eines zornigen Unverdrossenen von Matthias Iken.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbild gelten. Christoph Twickel bekam den Faden von Barbara Kisseler und gibt ihn an Xiomara Tortoza weiter.

Das Gestern und das Morgen trennt in Altona nur eine Straße. Auf der südlichen Seite der Großen Bergstraße fliegt der Staub, die Kräne werfen Schatten, es dröhnen die Maschinen der Großbaustelle von Ikea. Dort versprechen die Schweden ein Einkaufsparadies. Auf der anderen Seite reihen sich noch Handyshops an Gemüsehöker, Eisdiele an Lottoladen. Auf dieser Seite sitzt Christian Twickel, heute im Eiscafé Venezia. Der Journalist und Buchautor ist Verfasser der Streitschrift "Gentrifidingsbums oder eine Stadt für alle" (Nautilus), einer modernen Mao-Bibel für Gentrifizierungsgegner. Twickel streitet wider die "Aufwertung" einstmals heruntergekommener Stadtteile in attraktive In-Viertel.

An der Großen Bergstraße ist dieser Aufwertungsprozess im vollen Gange. Der Streit um Ikea gipfelte in zwei Bürgerbegehren und einem Bürgerentscheid. Schließlich sprachen sich mehr als drei Viertel der Altonaer für die erste City-Filiale des schwedischen Einrichtungshauses aus. Twickel hatte sich gegen das Möbelhaus engagiert. "Ich wohne nicht allzu weit entfernt und halte Ikea mitten in einem Wohngebiet für keine gute Idee", sagt Twickel, rührt in seinem Cappuccino und blickt auf die Stahlträger, die in die Höhe wachsen. "Nach dem Sieg der Pro-Ikea-Initiative beim Bürgerentscheid will ich mich aber auch nicht täglich an den Bauzaun stellen und ein 'Kehrt um!'-Schild in die Höhe halten." Der 47-Jährige fürchtet, dass Altona in wenigen Jahren diese Standortentscheidung bereuen wird. "An dieser Stelle gehört ein kleinteiliges Projekt hin, das als soziales Zentrum funktioniert und die lokale Wirtschaft befördert", sagt Twickel. Stattdessen kommt Ikea. "Das ist ein Gentrifzierungsturbo. Schon jetzt erhöhen Vermieter die Preise."

Twickel ist seit Jahrzehnten ein Beobachter der Stadt, ein Hamburg-Kenner und Querdenker zugleich. Der gebürtige Düsseldorfer stammt aus altem westfälischen Adel, der Vater Architekt, die Mutter Hausfrau. Das "von" verbannte er schon als Jugendlicher aus dem Namen; er träumte früh von einem anderen Leben in der Hansestadt - vor allem wegen der Musikszene. "Ich wollte immer nach Hamburg. Hier war alles toll, aufregender und härter." Nur die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen hatte zunächst etwas dagegen und schickte den begeisterten Jungmusiker nach München.

Nach vier Semestern an der Isar zog der Germanistikstudent 1988 an die Elbe - und wurde als Student auf St. Pauli unfreiwillig zu einem Pionier der Gentrifzierung: Meist sind es Künstler, Studenten, die Bohème, die als Pioniere einen günstigen Stadtteil für sich entdecken, Läden und Cafés nach sich ziehen und damit unfreiwillig Investoren den Weg bereiten. "Ich dachte immer, dass St. Pauli als Stadtteil nicht gentrifizierbar ist - er ist zu laut, zu dreckig, zu nervig. Heute finden auch Besserverdienende das Wohnen auf dem Kiez irgendwie kultig", wundert sich Twickel. Der bekannteste Stadtteil Hamburgs wandelt sich radikal. "Ich erinnere mich noch an eine Evakuierung wegen eines Bombenfunds in den 90er-Jahren - das war unglaublich, wie viele Greise und bleiche Alkoholiker plötzlich auf der Straße standen, die ihr Buden sonst kaum verlassen." Inzwischen sei ein Großteil der Bevölkerung ausgetauscht worden - Besserverdiener residieren dort, wo einst Arme wohnten. "Das schmuddelige, legendäre St. Pauli verwandelt sich in eine Kulisse für keimfreies Kiez-Entertainment", sagt Twickel und klingt in diesem Moment so zornig, wie sein Buch erwarten lässt. In "Gentrifidingsbums" kämpft er wortgewaltig gegen "Yuppisierung, Schickimickisierung, gegen Lattemacchiatisierung und die Bionade-Bourgeoisie". Im Gespräch klingt er besonnener. Und ja: "Ich trinke sehr gern Bionade."

Twickel spitzt zu - und schont dabei sein Publikum nicht. Er kritisiert eine "neue Apartheid vonseiten des deutschen Mittelstands, der grün wählt, links tickt, aber seine Lebensweise durchsetzen will und sich nach unten abschottet." Er selbst gehört nicht zu denen, die die Gesamtschule fordern und die eigenen Kinder zur Privatschule schicken, die Gentrifzierung aus der Eppendorfer Eigentumswohnung beklagen. Twickel wohnt mit seiner Freundin und den beiden kleinen Töchtern in einer WG mit einer anderen Familie. "Ich gönne jedem sein Penthouse, glaube aber, dass Stadtentwicklung eine andere Aufgabe hat, als dem oberen Drittel die Innenstädte wohnlich zu machen." Ihm geht es, wie der französische Soziologe Henri Lefebvre einst formulierte, um die Stadt als "verdichtete Unterschiedlichkeit".

Aus diesem Grund unterstützt er die Initiative für den Erhalt der Esso-Häuser auf dem Kiez, deshalb engagiert er sich in dem "aktivistisch-künstlerischen Kollektiv Schwabinggrad Ballett", das Tanz und Musik mit politischer Agitation verschmilzt. Und deshalb trifft er sich im Kreis von Aktivisten, Musikern und Performern, die sich regelmäßig in der Hafenstraße zum "Buttclub" versammeln.

Hier wurde er Geburtshelfer des Manifestes "Not in our Name, Marke Hamburg" - weil sich Künstler wie Rocko Schamoni oder die Goldenen Zitronen plötzlich als Werbeträger für das Marketing der Stadt missbraucht fühlten. "Da fragten wir uns, was wir eigentlich dafür bekommen, dass Hamburg Marketing mit uns wirbt." Die Antwort fiel deutlich aus und wurde zur Abrechnung, die deutschlandweit Schlagzeilen machte. Hier gab Twickel als der zentrale Verfasser dem Unmut eine Stimme: "Wir, die Musik-, DJ-, Kunst, Theater- und Film-Leute, die Kleine-geile-Läden-Betreiber und Ein-anderes-Lebensgefühl-Bringer, sollen der Kontrapunkt sein zur 'Stadt der Tiefgaragen'. Wir sollen für das Ambiente sorgen, für die Aura und den Freizeitwert, ohne den ein urbaner Standort heute nicht mehr global konkurrenzfähig ist. Wir sind willkommen. Irgendwie. Einerseits. Andererseits hat die totale Inwertsetzung des städtischen Raums zur Folge, dass wir, die wir doch Lockvögel sein sollen, in Scharen abwandern, weil es hier immer weniger bezahlbaren und bespielbaren Platz gibt."

Twickel versteht das Wort zu führen wie einen Säbel oder ein Schwert - von 1999 bis 2003 war er Redaktionsleiter und Chefredakteur der Stadtzeitschrift "Szene". Damals wollte er das Stadtteilmagazin zu einer Art ",Zeit' oder ,Spiegel' für Hamburg" ausbauen, stieß bald an die brutalen Grenzen des Marktes, überwarf sich mit dem Verleger und ist seitdem als freier Journalist unterwegs. Er bereiste Südamerika, wo seine Biografie über den umstrittenen venezolanischen Staatspräsidenten Hugo Chávez entstand. Hamburgs Musikszene setze er in "Läden, Schuppen, Kaschemmen. Eine Hamburger Popkulturgeschichte" ein Denkmal. Bei "Spiegel Online" schlug er kürzlich in einem Kommentar vor, die Elbphilharmonie nicht weiterzubauen. "Als Investitionsruine der städtischen Großmannssucht hätte sie eine heilsame Funktion", sagt Twickel. Vermutlich deshalb betonte Kultursenatorin Barbara Kisseler, die diesen roten Faden an Twickel weitergab, dass "wir längst nicht immer einer Meinung sind".

Trotzdem schätzen die beiden einander. "Sie macht das ganz okay", sagt Twickel, was als großes Lob verstanden werden darf. Kisseler rühmt seinen "kritischen, unabhängigen Geist, mit dem er sich für die Vielfalt des kulturellen Profils von Hamburg einsetzt".

Derzeit treibt ihn um, wie Künstler, Kreative und Kleingewerbetreibende langfristig unter einem Dach zu bezahlbaren Mieten zusammenfinden können. Die Kreativgemeinschaft Lux & Konsorten und Frappant e. V. hat inzwischen die Viktoria-Kaserne am Zeiseweg im Blick. Schon jetzt arbeiten dort rund 140 Künstler, Designer, Illustratoren, Fotografen, Stadtplaner, Architekten. Twickel setzt sich dafür ein, dass die Stadt den denkmalgeschützten wilhelminischen Kasernenbau an eine Genossenschaft verkauft, die das Gebäude erhält und weiterentwickelt. Auf rund 6000 Quadratmetern könnte so ein "Zentrum für freie Arbeit, kreative Produktion, öffentliche Veranstaltungen und für kulturellen und gesellschaftlichen Diskurs" entstehen. Die ehemalige Kaserne für das "Königlich preußische Infanterie-Regiment Graf Bose Nr. 31" und Polizeiunterkunft Altona - sie wäre dann eine Trutzburg des freien Geistes.

Und könnte damit zu einem weiteren Lieblingsort Twickels werden. Bislang zählt er das Nachbarschaftsprojekt "Park Ficton" am Pinnasberg dazu wie das von Künstlern besetzte Gängeviertel - Twickel nennt die Projekte "funktionierende Eroberungen".

Hart hingegen geht er mit der HafenCity ins Gericht. "Dem Flaneur springt ins Auge, dass die HafenCity als soziale Stadt kaum funktioniert." Das Projekt sei nicht wegweisend, sondern neoliberal. "Für viele Hamburger ist das Ausland, wo Touristen durchlatschen. Da gibt es idyllischere Orte an der Elbe." In diesen Momenten mag man sich Twickel auch als Politiker vorstellen. "Ich habe mal mit dem Gedanken gespielt und ihn wieder verworfen - ich passe nicht so gut in Parteistrukturen", sagt er. Er verändert die Stadt auf seine Weise - als Künstler, als Autor, als Aktivist.