Elisabeth Korgiel vom Verein Verwaister und Geschwister findet Worte, wenn andere im Schmerz verstummen. Jan Haarmeyer über eine Frau, die Eltern zur Seite steht, deren Kinder gestorben sind.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbild gelten. Elisabeth Korgiel bekam den Faden von Nina Schmedt und Teresa Steinmüller und gibt ihn an Jürgen Gosch weiter.

Und plötzlich war die Erinnerung wieder da. Elisabeth Korgiel stand mit 50 Müttern und Vätern in der Trauerhalle des Friedhofs Öjendorf. Vorne war ein hoher Tisch mit einem großen Tuch zugedeckt. Die blaue Decke fiel rundherum bis auf den Boden. Sie war mit durchsichtigen Schleifen und aus gelber Pappe gebastelten Sternen verziert. Wie ein leuchtendes Himmelszelt. Obendrauf standen Kerzen und ein kleiner heller Sarg aus Korb. Darin lag eine Urne mit der Asche der kleinen Menschen, die still geboren worden waren. "Schon gegangen, schon im Himmel ohne die Erde zu berühren", hat Pastor Martin Storm einmal gesagt.

Elisabeth Korgiel, 43, hat diese Abschiedsfeiern, die es zuvor nicht gab, vor fast zehn Jahren mitgestaltet. "Der Trauer einen Ort zu geben", sagt die Hamburgerin, "ist für viele Eltern ein wichtiger Teil des Trauerprozesses." Babys, die während der Schwangerschaft, bei einer Fehlgeburt oder durch einen Schwangerschaftsabbruch sterben, werden seit 2004 viermal im Jahr in Öjendorf in einer Gemeinschaftsbestattung würdig beerdigt.

Die Eltern tragen den Korbsarg im Wechsel. Sie singen gemeinsam ein Wiegenlied, sprechen Gebete und Gedichte. Sie pflanzen im Frühling Blumen der Hoffnung und zünden im Herbst Lichter in einer Grablaterne an. Und legen dann Abschiedsbriefe mit Wünschen, Träumen und kleinen Botschaften für ihre Kinder mit ins Grab. Bei einer dieser Feiern hat Elisabeth Korgiel mit einem Mal gespürt, dass auch sie eine betroffene Angehörige ist. "Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße", sagt sie.

Es gibt auch einen ständigen Ort der Trauer in Hamburg. Ein großes Haus in der Bogenstraße in Eimsbüttel. Unten ist eine Kita, im zweiten Stock hat der Verein Verwaiste Eltern und Geschwister Hamburg seine Räume. Wer hier anruft und um ein Gespräch oder einen Termin bittet, sagt später einmal Sätze wie diese Mutter: "Hier habe ich Hilfe bekommen. Hier wurde ich verstanden. Hier durfte ich weinen."

Elisabeth Korgiel ist in Zabrze im Süden Polens geboren worden. Im oberschlesischen Zentrum des Bergbaus und der Eisenindustrie. Ihr Vater ist zur See gefahren. "Er war manchmal monatelang unterwegs." Als sie geboren wurde, war er gerade in Hamburg.

20 Jahre später kam sie selbst an die Elbe. Im Juni 1989 hat sie geheiratet, einen Monat später ist sie mit ihrem Mann nach Deutschland gekommen. Zuerst nach Friedland ins Aufnahmelager. Zwei Wochen danach sind sie nach Hamburg gekommen. Sie hat einen Sprachkurs gemacht, das Abitur nachgeholt und wollte Psychologie studieren. Doch erst einmal wurden ihre beiden Töchter geboren, bevor sie sich 1999 an der Uni einschreiben konnte. "Mich haben immer die Menschen und ihre Seelen interessiert." Wie bekommt man einen Zugang zu dem, was ganz tief drinnen in ihnen vorgeht?

Elisabeth Korgiel ist eine fröhliche Frau. Sie lacht gerne, feiert gerne und treibt jede Menge Sport. "Von Karate bis Skilaufen." Sie liebt die Stille des Waldes und die Kraft des Meeres. Und sie geht den Dingen gerne auf den Grund.

"Es fühlt sich wie ein innerer Druck an, der sich in vielen Situationen des alltäglichen Lebens aufbaut. Du denkst, es kann doch nicht alles sein. Es muss noch etwas dahinter sein, tief verborgen und damit die Atmosphäre einer Familie beeinflussen, meine Kernfamilie, die ich erst aus der Perspektive einer erwachsenen Frau kennenlernen durfte", schreibt sie in dem Buch "Warum nur, Gott?" (Gütersloher Verlagshaus), in dem Autoren und Betroffene ihren Glauben und ihre Zweifel nach dem Tod eines Kindes aufgeschrieben haben.

Elisabeths Mutter leitet ein Hospiz in Zabrze, "und so hatte ich immer schon Kontakt zur Sterbebegleitung". Das war auch der Grund für die junge Psychologie-Studentin, sich 2003 in Hamburg nach ähnlichen Arbeitsfeldern umzusehen. So stieß sie auf den Verein Verwaister Eltern und Geschwister. Sie begann dort mit einem Praktikum.

Bei ihrem ersten Gruppenabend saßen zwölf Mütter und Väter im Kreis. In der sogenannten gemischten Elterngruppe sind die Kinder auf ganz unterschiedliche Art ums Leben gekommen. Bei einem Verkehrsunfall, im Urlaub, auf dem Fußballplatz. Mal erst vier Jahre alt, mal mit 17. Elisabeth Korgiel hat an diesem Abend sehr viel geweint. "Als die Eltern von ihren Kindern erzählt haben, war ich völlig in Tränen aufgelöst." Nein, hat sie gedacht, hier bist du falsch, das hältst du nicht aus. "Nicht ich habe die Eltern getröstet, sondern sie haben mich in den Arm genommen." Das war ihr furchtbar peinlich.

Erfahrene Kolleginnen haben ihr dann gesagt, sie sei genau die Richtige. Weil sie sich berühren lasse. Das half und bestärkte sie darin, mit dieser Arbeit weiterzumachen.

Zwölf ausgebildete Trauerbegleiter, elf Frauen und ein Mann, betreuen in der Bogenstraße mittlerweile 22 Gruppen, die sich zweimal im Monat zum Gespräch treffen. Manche Begleiter haben selbst ein Kind verloren und stehen jetzt den betroffenen Eltern zur Seite. "Wir sind ein Team, und ich stehe nur stellvertretend für alle, die hier diese wichtige Arbeit machen", sagt Elisabeth Korgiel. Sie sagt auch, dass der gemeinnützige Verein immer wieder dringend auf Spenden angewiesen ist. Geld könne den Verlust eines geliebten Menschen niemals ausgleichen. "Aber es wird gebraucht, um Trauernde auf ihrem Weg zurück in ein gelingendes Leben zu begleiten."

Sie leiten gemischte Gruppen, Babygruppen, Suizid- oder Krebsgruppen. Es gibt eine Gruppe mit Eltern, deren Kinder Opfer von Gewaltverbrechen geworden sind. Und eine Gruppe nur für Kinder- und Jugendliche, die einen Angehörigen verloren haben.

Jedes Mal geht es um das Unfassbare. Das Entsetzliche, das eigentlich keine Worte mehr hat. Und trotzdem irgendwann über die Lippen kommt. Wenn Eltern von den endlosen Stunden am Krankenhausbett erzählen. Wenn ihre Kinder sie anflehen: "Mama, ich kann doch jetzt noch nicht sterben. Ich habe doch nichts getan. Ich habe doch noch so viel vor." Und wenn sie ihrem vom Krebs gezeichneten Kind hilflos antworten: "Nein, du stirbst auch nicht, das lassen wir nicht zu."

Und nach dem Beten und Bitten, der Wut und der Verzweiflung, den Tränen und der Angst kommen doch der Abschied und die unendliche Trauer. Und dann folgen die qualvollen Schritte in ein neues Leben, das mit dem alten nichts mehr zu tun hat. Weil da eine Lücke klafft, die so groß ist, dass sie nie wieder geschlossen werden kann.

Gibt es in solchen Situationen überhaupt eine Hilfe? Wie kann man den Eltern, die vom Schmerz überwältigt sind, beistehen? "Den eigenen Tod stirbt man nur; doch mit dem Tod der anderen muss man leben", hat die Dichterin Mascha Kaléko geschrieben. "Mich schreckt die Hölle nicht mehr. Ich kenne sie schon. Ich habe jahrelang in ihr gelebt", hat eine Mutter geschrieben.

Hilft es, wenn man vielleicht den Himmel ausmalt? Als eine prächtige Stadt voller Farben und Licht, mit Musik und Tanz, Lachen und Staunen?

"Vielleicht sind Menschen, die schon früh gehen mussten, Seelen, in denen Gott schon sehr gewachsen ist", schreibt eine Mutter. "Vielleicht ist ein Sinn des Lebensplanes unseres Kindes, dass auch unsere Seelen reifen sollten. Und jetzt sitzt Pia irgendwo und freut sich an dem, was wir gelernt haben."

Elisabeth Korgiel ist praktizierende Katholikin. Sie kann es verstehen, wenn Menschen sich nach dem Tod ihres Kindes wütend von Gott abwenden. Sie sagt, dass die Eltern auf der Suche nach Antworten sind. Sie erinnert an Rainer Maria Rilke. "Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein", schrieb der Lyriker. "Jeder bleibt auf der Suche", sagt Elisabeth Korgiel. "aber vielleicht findet er auf dem Weg etwas, das ihm Halt gibt." Was könnte das sein? "Die Zweifel, die man haben darf. Die Liebe zu dem Verstorbenen. Die Erinnerung an gemeinsame Momente."

An den Wänden in den Gruppenräumen hängen von den Eltern gestaltete große Teppiche, die sich aus einzelnen Stoffstücken zusammensetzen. Auf ihnen haben sie Fotos oder Sätze, Gedichte oder eine CD, ein Vereinsemblem oder ein Stück der Lieblingsjeans ihres Kindes angebracht. Svea ist nur 19 Jahre alt geworden: "Für die ganze Welt bist du irgendjemand, aber für irgendjemand bist du die ganze Welt", steht da. Bei Christoph steht: "Liebe unendlich, Schmerz unendlich, Hoffnung unendlich." Es gibt Bruder und Schwester, die kurz nacheinander bei Verkehrsunfällen gestorben sind. Es gibt das verstorbene Baby und seinen Vater, der kurz darauf ums Leben gekommen ist.

Einige Flecken sind noch leer, dort hängt nur ein Papierherz mit dem Namen. Manche Eltern brauchen Jahre, um das Stoff-Quadrat fertigzustellen.

"Jeder entscheidet für sich, wann er den Frühling wieder als etwas Hoffnungsvolles ansieht", sagt Elisabeth Korgiel. Gibt es irgendwann bei jedem Menschen einen Moment, an dem er das Schicksal akzeptiert und sich vielleicht sogar wieder zu lachen traut? "Man kann es annehmen, ohne es zu akzeptieren, um Freude und Leichtigkeit im Leben wiederzufinden", sagt sie.

Wenn betroffene Eltern sehen, dass eine Mutter, deren Kind mit zwölf Jahren ermordet worden ist, jetzt wieder Freude am Leben hat, gebe ihnen das ganz viel Mut und Kraft zum Weiterleben. Und das wiederum ist es, was die Trauerbegleiter auf die Frage antworten, wie sie das alles aushalten? "Wir werden Zeuge einer Veränderung", sagt Elisabeth Korgiel. "Dass Eltern wieder Boden unter die Füße bekommen. Dass sie einen geschützten Rahmen gefunden haben, in dem sie sich nicht rechtfertigen müssen." Dass sie auf Menschen treffen, die sich nicht abwenden, weil sie mit der Situation überfordert sind. Sondern voller Zuwendung sind, weil sie ja wissen, wovon die Rede ist. Und warum das Schweigen sein muss.

Auch Elisabeths Mutter hat geschwiegen. "Ich habe neben meiner zehn Jahre jüngeren Schwester noch drei Geschwister, die während der Schwangerschaft verstorben sind." Gesprochen wurde darüber nicht. Vorwerfen tut sie ihrer Mutter das Schweigen nicht. "Die Entscheidungen, die meine Eltern damals getroffen haben, waren genau richtig. Man kann nur so viel Schmerz und Sehnsucht um ein verstorbenes Kind zulassen, wie die Seele und der Körper aushalten können."

Erst als erwachsene Frau tauchte bei einer Abschiedsfeier in Öjendorf die Erinnerung an die traurigen Szenen ihrer Kindheit wieder auf. "Ich wusste immer, es fehlt etwas", sagt Elisabeth Korgiel. "Und erst nachdem ich es herausgefunden habe, hatte ich endlich das Gefühl, vollständig zu sein."