Gegensätze ziehen sie an. Erst pendelt Sibilla Pavenstedt zwischen Alster und Seine. Dann entdeckt die hanseatische Kaufmannstochter die Bewohnerinnen der Elbinsel. Eine Designerin, die mehr schafft als Mode.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden,an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbildgelten. Sibilla Pavenstedt bekam den Faden von Simone Bruns und gibt ihn an den Architekten Stephen Williams weiter.

Alster oder Elbe? Eine Frage, die die meisten Hamburger binnen weniger Sekunden beantworten. Sibilla Pavenstedt nicht. Die Designerin sitzt in ihrem Atelier in St. Georg, den Kopf auf die rechte Hand gestützt, und denkt nach. Unüberlegte Schnellschüsse gibt es bei ihr nicht. Dann die Antwort: "Ich finde diese Weltoffenheit der Elbe, diesen Blick in die Weite total spannend, aber ich mag auch das kleine, beschauliche der Alster." Dieses Einerseits-Andererseits der 47-Jährigen ist kein Zeichen von Unentschlossenheit, sondern viel mehr eines für ihre Entschlossenheit, die Welt nicht einseitig zu sehen.

Sibilla Pavenstedt ist eine, die sich ihre eigene Schublade schafft, die unterschiedliche Welten zusammenbringt und sich nicht anmaßt, Dinge besser als andere zu bewerten. "Ich liebe einfach die Kontraste, die Hamburg zu einer wunderschönen Stadt machen", beendet Pavenstedt ihre Antwort auf die Elbe-oder-Alster-Frage.

Pavenstedt wurde in Bremen geboren und wuchs mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder wohlbehütet im Stadtteil Schwachhausen auf, der in etwa mit Harvestehude vergleichbar ist. Der Vater war ein durch und durch hanseatischer Kaufmann, die Mutter Italienerin mit Hang zum Künstlerischen. Das prägt. Oft ging die junge Pavenstedt mit ihrer Mutter, die sich im Förderkreis Gegenwartskunst engagierte, in Museen und Ausstellungen. "Sie hat mich sehen gelehrt", sagt die Designerin. "Meine Mutter war meine Inspirationsquelle und ist es mein ganzes Leben lang geblieben."

Für sie fertigte Pavenstedt auch ihr erstes richtiges Kleid, da war sie 15 Jahre alt. Zuvor begnügte sie sich mit der Garderobe ihrer Barbie-Puppen. Die Frauen der Familie lebten dem Mädchen neben der Vorliebe für Kultur ihren italienisch geprägten Stil vor. "Meine Mutter und meine Großmutter waren anders als andere Frauen in meiner Umgebung."

Sie trugen sehr feminine Mode mit auffälligen Farben und einer gewissen Extravaganz. Und wenn etwas nicht gefiel, dann wurde das auch klar gesagt. "Meine Mutter hat eine sehr ausgeprägte Persönlichkeit und Präsenz", sagt Pavenstedt. Manchmal geht das so weit, dass wenn die beiden gemeinsam zu einem Termin gehen, die Mutter für die Designerin gehalten wird und Sibilla Pavenstedt nur für deren Begleitung. Denn trotz der engen Verwandtschaft sind die beiden Frauen im Wesen verschieden. "Ich inszeniere mich nicht selbst, sondern andere Menschen", sagt Pavenstedt. Sie will mit ihrer Mode das in ihren Augen Besondere an ihren Kunden hervorheben.

Während die Mutter Sibilla Pavenstedt den Sinn fürs Künstlerische mit auf den Weg gab, erbte sie vom Papa zwei andere Tugenden: Kommunikationsfreudigkeit und Diplomatie. Auch Harmonie ist der Designerin bis heute wichtig, besonders im privaten Umfeld. Mit der Zeit hat sie gelernt, dafür auch mal selbst zurückzustecken. Sie erkennt nun ständig wiederkehrende Muster und weiß, dass es sich nicht lohnt, deshalb immer wieder Energie und böse Worte zu verlieren. Beruflich hingegen kommt sie mit Widerspruch gut klar und schätzt diesen sogar als Impulsgeber für Neues.

Gemeinsam hatten die Eltern ihre liberale Grundeinstellung, von der Pavenstedt in ihrer Jugend profitierte. Sie führte ein Leben voller Gegensätze. Auf der einen Seite war das diese sehr behütete und bürgerliche Welt, in der sie aufgewachsen war, und gleichzeitig pflegte sie regen Kontakt zu Künstlern, Freidenkern und politisch Aktiven. "Ich war überall dabei und nirgends." Sie betont, dass sie sich nicht selbst etwa einer politischen Vereinigung anschloss, aber den Menschen und ihren Gedanken gegenüber aufgeschlossen war. Sie wollte alles über diese fremden Lebenswelten wissen, und zwar aus erster Hand. Sie wollte sich nicht erklären lassen, wie das Leben ist. Sie wollte es selbst erfahren und erleben. Als etwa Flüchtlinge ein größeres Thema in den Nachrichten wurden, entschloss sich die Schülerin, einmal in der Woche ehrenamtlich Deutschunterricht in einem Auffanglager zu geben und sich so selbst ein Bild zu machen.

Mitte der 80er-Jahre dann das Abitur. Pavenstedt war immer klar, dass sie Künstlerin werden wollte. Doch ihr Arbeiten war zu dekorativ. Also entschloss sie sich für Modedesign, die Verbindung aus Kreativität und Schönem. Vier Semester studierte sie in Bremen an der Akademie für Kunst und Musik. Sie wohnte in einer Wohngemeinschaft.

Abends genoss sie das wilde Nachtleben in der High Society, der Subkultur und irgendwo dazwischen. Für Pavenstedt widersprach sich das nicht. Freitag eine schicke Dinner-Party und Sonnabend ein abgerockter Musikclub. Sie brauchte das, um Ideen daraus zu schöpfen. Alles, was Pavenstedt erlebte, verarbeitete sie. Auch heute noch. Sie bezeichnet sich als Durchlauferhitzer. Sie saugt alles in sich auf und entwickelt es weiter - oder verwirft es. "Jeder, der etwas gestaltet, muss lernen zu limitieren", sagt sie. Schwer findet sie das nicht. Und während die meisten über eine Reizüberflutung ob der vielen neuen Medien stöhnen, freut sich Pavenstedt über die neuen Technologien, die ihr eher eine Hilfe beim Sortieren ihrer Eindrücke und Ideen sind.

1988 ging sie für eine zum Studium gehörende Ausbildung zur Schnittdirektrice nach Hamburg. Mit Freunden organisierte sie nebenher kulturell angehauchte Partys. Unter dem Motto "Christo pack ein" etwa wurde das Interieur im Musikclub Kir nach dem Prinzip des Namen gebenden Künstlers verhüllt. Nach einem Jahr an der Elbe ging es für Pavenstedt an die Seine, nach Paris. Klar, die Stadt der Mode. Dort musste die junge Frau, die alles selbst entdecken wollte, hin. Sie studierte am Studio Bercot und machte 1990 in Frankreich ihren Abschluss in Modedesign.

Der Lebenslauf liest sich von hier an wie ein Modemärchen: Auszeichnung mit dem Mode-Oscar der Münchner Modemesse Avantgarde, Ateliers in Bremen und Paris, Showroom in New York, Präsentationen in Tokio und Mailand, Gastprofessuren - um nur einige Erfolge zu nennen. Bereits 1993 zogen das Bremer Atelier und der zugehörige Showroom nach Hamburg um. Pavenstedt selbst pendelte zwischen Hamburg und Paris, bis sie irgendwann die französische Dependance im Viertel Saint-Germain schloss und ganz in Hamburg sesshaft wurde. Ihr gefielen die Modehauptstadt in Frankreich und das pulsierende, kulturell vielfältige und kreative Leben in ihrem dortigen Quartier. Doch irgendwie hatte sie das Gefühl, die Metropole an der Seine funktioniere auch ganz gut ohne sie und sei zu groß, um tief greifende eigene Spuren zu hinterlassen. In Hamburg war das anders. "Spuren hinterlässt nur jemand, der wirklich gelebt und was erlebt hat. Und ich möchte immer spüren, dass ich lebe. Das wird so sein, bis ich sterbe." Der Gedanke an ein unausweichliches Ende beunruhige sie. Zu viel möchte sie noch machen, erleben.

Spuren hinterlässt Pavenstedt derzeit auch auf der Veddel. Da sind zum Beispiel die in Steinplatten eingelassenen Strickmuster, die einen Platz im Viertel zieren. Daneben stehen die Namen der Frauen, die die Muster gefertigt haben. "Ich wünsche mir, dass deren Kinder und Enkelkinder darüberlaufen und sagen 'Das hat meine Mutter oder Großmutter gemacht'", sagt Pavenstedt, die allein in ihrer Wohnung in St. Georg lebt. 2008 initiierte die Designerin in Zusammenarbeit mit dem Förderwerk Elbinseln das Projekt "Made auf Veddel", seit 2010 ist es ein eigenständiger Verein. Die Strickmuster in den Steinplatten sind ein Teil von "Made auf Veddel" und entstanden bei einem Strickwettbewerb. Das Projekt verbindet die schicke Modewelt mit den handarbeitlichen Fähigkeiten, die viele der Frauen, die meisten von ihnen mit Migrationshintergrund, in dem sozial schwachen Stadtteil haben. Die Frauen fertigen unter anderem Schals, Deko-Eier, Weihnachtskugeln - und manchmal übernimmt Pavenstedt eine Idee von ihnen für ihre Kollektionen. Neben dem Geld, das die Frauen so dazuverdienen können, wiegt aber vor allem die Anerkennung, die sie für ihr Können bekommen. Die gut betuchten Damen, die etwa einen Schal von der Veddel bei Pavenstedt kaufen, wissen dank eines Etiketts mit dem jeweiligen Namen immer, wer ihn gemacht hat.

Das passt zu Pavenstedts grundlegender Haltung: Sie will Welten, die eigentlich nicht zusammenpassen, vereinen, sodass etwas Schönes entsteht. So, wie das mit der Alster und der Elbe ist, die erst zusammen die ganze Schönheit Hamburgs ausmachen.

Architekt Stephen Williams übernimmt den roten Faden von Sibilla Pavenstedt