Der 58-Jährige kam erst auf Umwegen zur Medizin. Alexander Schuller traf einen der profiliertesten Tumorexperten für Brustkrebserkrankungen.

Deutsche Krankenhausserien tun nicht besonders weh. In ihnen laufen Dinge ganz anders, wenn überhaupt und meist realitätsfremd, weil sie für die breite Masse produziert werden, die ein Happyend erwartet. Dafür sorgen flotte Mediziner wie Dr. Stefan Frank, "der Arzt, dem die Frauen vertrauen", die souverän Optimismus verströmen, zwischen zwei Wundnähten Beziehungen kitten können - so dass am Ende die Welt in Ordnung ist. Hier im Mammazentrum (lat. für Brustdrüse) dagegen, in dem durchschnittlich 1000 neue Patientinnen pro Jahr erstmals damit konfrontiert werden, dass in ihnen ein bösartige Tumor heranwächst, wird das Drehbuch von den wahren, individuellen Verläufen dieser häufigsten Krebsart bestimmt, die bei Frauen vorkommt. In Deutschland werden jährlich rund 140.000 neue Fälle gemeldet, die Tendenz ist leicht steigend, weil auch die Menschen immer älter werden.

Doch wie sagt man einem Menschen im realen Leben, dass er bald sterben wird? Dr. Timm Schlotfeldt, 58, Arzt für Gynäkologie und Leiter des Mammazentrums im Jerusalem-Krankenhaus in Eimsbüttel, musste im Laufe seines Berufslebens schon häufig die Rolle des Überbringers einer Hiobsbotschaft übernehmen. "Der früheste Zeitpunkt, um über die Zeit zu reden, die einer Krebspatientin noch bleibt, ist, wenn wirklich feststeht, dass alle medizinischen Mittel ausgeschöpft sind", sagt er bedächtig. Man solle dann diesen endgültigen Befund wie einen schützenden Mantel um den Todkranken legen. Doch schon vorher müsse man unbedingt erforschen, ob eine Patientin diese Botschaft überhaupt hören will, weil sie sich bis zuletzt an die Hoffnung klammert. "Andere Patientinnen dagegen möchten die Wahrheit wissen. Und wenn man es besprochen hat, entsteht häufig sogar fast so etwas wie eine fröhliche Situation, weil wir diesen Patientinnen versprechen können, sie zu begleiten und ihnen ihre Ängste vor den Schmerzen nehmen zu können."

Schlotfeldt redet leise, beinahe sanft und verzichtet dabei auf fachchinesisches Vokabular. Er wirkt sofort wie einer, der von dem, was er tut, ganz klare Vorstellungen hat. Es klingt weder beschönigend noch gar triumphierend, wenn er die positiven Zahlen nennt und die modifizierten Behandlungsmethoden erwähnt, die die Zuversicht nähren können, den Krebs irgendwann vielleicht endgültig zu besiegen. So erzählt er, dass sie hier mittlerweile rund 80 Prozent der Patientinnen heilen können. Dass die Operationsverfahren immer schonender werden und die Rekonstruktionen der Brust immer besser. Dass überhaupt in 70 bis 80 Prozent der Fälle bereits brusterhaltend operiert werde. "Die weibliche Brust ist ja auch ein ganz besonderes Organ. Es hat was mit Ästhetik, mit Fraulichkeit, mit Sexualität und nicht zuletzt auch mit Partnerschaft zu tun", sagt er. Dass sie mit medikamentösen Therapien immer größere Fortschritte erzielen, aber auch mit der Bestrahlung. "Wir sind das weltgrößte Zentrum für intraoperative Strahlentherapie. Wir greifen die Tumorumgebung direkt an, indem wir noch während der Operation, in Vollnarkose, für 30 bis 45 Minuten eine Bestrahlungskugel in die offene Wundhöhle legen." Für die älteren Patientinnen bedeutet dies zukünftig, dass sie nach der OP nicht mehr sieben Wochen lang zur Bestrahlung in ein Krankenhaus fahren müssen, das vielleicht zwei Autostunden entfernt liegt. Und sie haben auch als erstes Zentrum die neue Kühlkappe in einer abgeschlossenen Studie getestet. Eine zeitraubende und aufwendige, aber wirkungsvolle Anwendung, um zu verhindern, dass während der Chemotherapie die Kopfhaare ausfallen. Bei etwa 80 Prozent der Patientinnen gelänge dies inzwischen. "Wenn wir erkennen, dass eine Methode funktioniert, dann wenden wir sie auch an", sagt Schlotfeldt, der jedoch für solche Entscheidungen, die Geld kosten und teures Personal binden, keinen Aufsichts- oder Verwaltungsrat oder sonstiges Gremium erst umständlich um Erlaubnis fragen muss. Weil er seit 2007 Mitinhaber des Jerusalem-Krankenhauses ist, einer von vier Gesellschaftern.

In jenem Jahr kaufte er gemeinsam mit zwei Kollegen und einem befreundeten Kaufmann diese ehrwürdige Klinik, in der er bereits über zehn Jahre als Belegarzt gearbeitet und das Mammazentrum gegründet hatte. Und in der er selbst zur Welt gekommen war, was seine emotionale Bindung zu diesem 100 Jahre alten Krankenhaus des Diakoniewerks Jerusalem sicherlich noch einmal verstärkte. Doch das Haus mit seinen knapp 100 Betten steckte damals tief in den roten Zahlen, die Schließung schien unvermeidlich, über 100 Arbeitsplätze standen auf dem Spiel. Die großen Klinikkonzerne hatten ihr anfängliches Kaufinteresse am Pleitekandidaten verloren, und auch "wir Belegärzte waren eigentlich schon auf dem Weg woanders hin", erinnert sich Schlotfeldt, der sich nicht als Erster unter Gleichen verstanden werden möchte. Die Aufgaben hätten er und seine Kollegen klar untereinander aufgeteilt, wobei er - neben der Medizin - für die strategische Ausrichtung zuständig sei, für die Visionen und das Ambiente.

Doch hier bot sich nun die vielleicht für ihn einmalige Chance, die ärztliche Tätigkeit absolut selbst bestimmt auszuüben. "Wir hatten uns ja schon früh als Organzentrum ausgerichtet, denn wir glaubten und glauben immer noch, dass darin die Zukunft liegt", sagt er, "dabei wollte ich eigentlich nie in einen Indikationszwang, in die wirtschaftliche Verantwortung, kommen."

Gerade für Brustkrebspatientinnen sei es enorm wichtig, dass sie sich nicht bloß als Fälle fühlten. Die moderne Medizin, der Fortschritt, seien sicherlich die eine Notwendigkeit, aber die familiäre Atmosphäre des alten, verwinkelten Gemäuers mit seinen hohen Decken, den großen Fenstern und den hellen Räumen trage zu einem entspannten Umfeld bei, das den Patientinnen gut tue. Und so dürfte es auch niemanden verwundern, dass sie mit Hilfe eines befreundeten Kochs vom "Nil" die alte Suppenküche des Jerusalem in ein richtig schickes Restaurant umgebaut haben, mit einer gut ausgestatteten Bar und einer Speisenkarte, die sich nur ganz knapp unterhalb der so genannten "Spitzengastronomie" bewegt - und dennoch bezahlbar bleibt. "Die onkologischen Patienten können hier eine Auszeit nehmen und in der Normalität landen, in einer besonders schönen Normalität. Wir wollen ihnen ihre belastete Lebenssituation ebenso menschlich wie angenehm gestalten, nicht nur bei der Pflege. Und wenn sie nicht in einer Krankenhauskantine sitzen müssen, die nach Bohnerwachs riecht und wo Essenscontainer herumstehen, dann kann das für die Gesamtsituation sicherlich hilfreich sein." Das Santé sei aber auch ganz bewusst als ganz normales öffentliches Restaurant konzipiert - das jedoch naturgemäß ein wenig unter der Nähe des Krakenhauses leide. "Inzwischen haben wir schon viele Stammgäste. Denn wer da war, kommt gerne wieder", verspricht Schlotfeldt, jetzt Gastronom.

Vielleicht ist das Jerusalem-Krankenhaus auch deswegen ein weiteres Indiz dafür, dass arztgeführte Spezial-Kliniken eine gute Alternative sind. Dass Mediziner eben besser wissen, was ihre Patienten benötigen, als die kühlen Rechner in einer Verwaltung - und dabei dennoch profitabel wirtschaften. Das Jerusalem-Team mit seinen flachen Hierarchien habe zwar schon im ersten Jahr immerhin die schwarze Null geschafft, sagt Schlotfeldt, nicht ohne Stolz, "aber wir müssen nach wie vor zufrieden sein, wenn wir am Ende eines Geschäftsjahres glatt dastehen."

Den liebevollen und menschlichen Umgang mit Patientinnen dabei als unternehmerische Strategie zu werten, wäre sicherlich übertrieben. Doch die Jerusalemer legen eine besondere Haltung an den Tag, die der Tumorexperte - stellvertretend für alle - als Arzt und Mensch repräsentiert. Es scheint, als wundere er sich heute noch selbst, wie er hier landen konnte.

Denn seine Hochschulreife erlangte er "ohne Glanz" auf dem Internat Louisenlund, und niemand hätte damals angenommen, dass der langhaarige Rockmusik-Freak, in den 1980er Jahren Disco-Stammgast im legendären Hamburger Bermuda-Dreieck aus Cha-Cha, Madhouse und After Eight sowie begeisterter Alstersegler, ausgerechnet Arzt werden würde, Gynäkologe, Tumorexperte.

Schlotfeldt stammt aus einer künstlerisch und musisch geprägten Familie; sein Vater war Grafiker und besaß eine Werbeagentur in der Warburgstraße, damals war noch die Galerie Brockstedt Nachbar, und der Künstler Horst Janssen ging bei den Schlotfeldts ein und aus. Manchmal schoss man auch im großen Atelier mit dem Luftgewehr - und so besitzt Schlotfeldt heute neben einer überbordenden Sammlung, auch einen hohen Stapel Zielscheiben mit Janssen-Zeichnungen auf der Rückseite.

Sein Vater verdonnerte den Sohn, der ursprünglich Designer werden wollte, zu "einer soliden Basis", und der aufmüpfige Timm zog die Banklehre durch - aber nur, "weil ich im Sommer nach Sylt versetzt wurde." Kurze Zeit später muss es dann jedoch "Klick" gemacht haben: Vor Gericht erstritt er einen Medizinstudienplatz, studierte in Köln und Hamburg, machte schließlich seinen Facharzt am Universitätskrankenhaus Eppendorf, war dort Oberarzt - und machte schnell Karriere.

Schlotfeldt, der verheiratet und Vater dreier Töchter ist, besitzt aber auch 30 Gitarren, die er bespielen kann. Er sei zwar "kein richtig guter Gitarrist", meint er, aber es reichte, die Band "Gone Fishin'" zu gründen, in der neben dem Werber Holger Jung auch zwei Mitarbeiter aus der Klinik mitspielen. Einmal pro Woche wird geprobt, und wer "Gone Fishin'" live in concert hören will, kann dies auf Youtube tun.

Doch jetzt sitzt er in seinem Büro unterm Dach des 100 Jahre alten Krankenhauses an seinem Schreibtisch, der weder unordentlich ist, noch pedantisch aufgeräumt. Er trägt einen blütenweißen Kittel, aber nichts Professorales haftet ihm an. Er lächelt. Er lächelt offenbar ziemlich viel. Das verraten Fältchen um seine Augenwinkel. "Neurophysiologisch betrachtet bekämpft Musik erfolgreich die Angst", sagt er. Und Krebs sei meist Angst. Natürlich weiß der Arzt um die zum Teil erbittert geführten Diskussionen um die Früherkennung, die inzwischen kleinste Tumoren sichtbar macht, die in den Organismus vielleicht nicht mal ansatzweise angreifen und dann mit Chemotherapien, Bestrahlungen und Operationen bekämpft würden...

"Nein", sagt Schlotfeldt bestimmt, "die Früherkennung ist noch immer das A und O, die Mammadiagnostik, das Screening sind wichtig. Damit fischen wir pro Woche in Hamburg bis zu 15 Patientinnen heraus." Er stehe schließlich täglich an der Front, wo er sich häufig leider auch als "harter Krieger" beweisen müsse. Wenn sie beispielsweise einer 23-jährigen, jungen Frau beide Brüste radikal entfernen müssen, damit sie eine Chance aufs Weiterleben hat. Wenn es dann im OP ganz still wird, und niemand aus dem Team seine tiefe Betroffenheit verbergen kann.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbildgelten. Dr. Timm Schlofeldt bekam den Faden von Ingeborg zu Schleswig-Holstein und gibt ihn an Michael Reinhold weiter