Als rastlose Kampnagel-Intendantin experimentiert Amelie Deuflhard unaufhörlich mit neuen Kunstformen. Ruhe findet die Mutter von vier Kindern beim Gärtnern und Kochen im Havelland. Ein Porträt von Klaus Witzeling

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbildgelten. Dieter Läpple bekam den Faden von Uli Hellweg und gibt ihn an Amelie Deuflhard weiter.

Die Kampnagel-Intendantin kickert eine Runde Tischfußball. Kickern, sagt die gebürtige Schwäbin Amelie Deuflhard, entspanne und lockere die Stimmung zwischen hausinternen Sitzungen, den Bewerbungs- und Künstlergesprächen - oder vor einem Interview mit Journalisten. Im eingespielten Team-Play mit Dramaturgin Nadine Jessen glückt ihr das dritte Tor gegen die noch etwas ungeübte Partei zweier junger Dramaturgie-Anwärterinnen. Großes Hallo und Gelächter. Endstand nach drei schlagkräftigen Minuten 6:2 für die Deuflhard-Seite.

Ein überlegener Sieg der sportlichen Hosenträgerin. Weiße Bluse und Jackett komplettieren das Business-Outfit. Lässig, doch korrekt behält Deuflhard die Oberhand und ihre Ziele im Auge - natürlich in noch viel ernsthafteren Situationen als beim ausgelassenen Kickern. Das gehört zweifellos zu den Kompetenzen der 53-jährigen Theaterleiterin, Fundraiserin, Produzentin und Netzwerkerin mit dichtmaschigen Verbindungen in die internationale Kunstszene.

Aktiv und präsent ist Amelie Deuflhard in unterschiedlichen Situationen zu erleben: immer in Bewegung und immer kommunikativ. Nicht nur in den Sommermonaten kann man sie auf ihrem Motorroller oder auch mit dem Fahrrad die Eppendorfer Landstraße entlang in Richtung Jarrestadt sausen sehen. Schwimmen ist seit ihrer Kindheit eine Leidenschaft geblieben. Noch heute ist die Arzttochter besonders stolz auf ihren Sprung vom Zehnmeterturm im Sindelfinger Schwimmbad mit sieben Jahren.

Dabei hat Amelie Deuflhard danach weit mutigere Sprünge gewagt. Nachdem ihre vier Kinder - Florian, Carolin, Valerie und Marie - älter geworden und aus dem Gröbsten heraus waren, ging sie 1996 nach Berlin, um das zu machen, was sie eigentlich schon immer wollte: Theater. "Ich begann dort als freie Produzentin und habe mir Kulturmanagement durch Learning by Doing erarbeitet", sagt die studierte Romanistin, die mit dem renommierten Mathematikprofessor Peter Deuflhard verheiratet ist, aber getrennt von ihm lebt. Sie übernahm 2000 die künstlerische Leitung der Sophiensaele, einer freien Produktionsstätte für Tanz, Theater und Performance in Berlin-Mitte, deren Programm und Profil sie ausbaute und stärkte. Nach sieben erfolgreichen Jahren, in denen sie auch spektakuläre Stadtprojekte wie die Bespielung des Palasts der Republik realisierte, erfolgte der Sprung von der Spree zu Kampnagel nach Hamburg.

Nicht nur persönlich, auch beruflich ständig in Bewegung zu bleiben, ist für die Intendantin und Theaterproduzentin zweite Natur. Sie ist immer auf der Suche nach neuen Künstlern und Trends, auf Festivals in Metropolen zwischen Afrika, Asien, Amerika und selbstverständlich in Europa unterwegs. Sie agiert jedoch ebenso geistesgegenwärtig und wortgewandt in der Hamburger Öffentlichkeit bei kulturpolitischen Debatten oder beim Anzapfen öffentlicher und privater Geldquellen für die etwa 150 Produktionen, die pro Spielzeit gezeigt werden. Vertieft in rege Debatten oder Gespräche mit Besuchern, Förderern und Künstlern, ist sie häufig vor oder zwischen den Vorstellungen auch im Foyer zu erleben. Mal beschwingt mit einem Glas Rotwein, mal ohne.

"So ein Ort für Experimente und moderne Kunst kann für einige als ein bisschen schwierig und spröde scheinen", weiß Deuflhard. "Wir lösen diese Barrieren auf, führen das Publikum an neue Kunstformen heran und arbeiten an Formaten, die herausfordern und unterhalten." Sie rollte 2007 zur Eröffnung ihrer ersten Saison den roten Teppich für die 3000 Gäste aus. Viele von ihnen ließen sich auf den "15 Metres Walk of Fame", einer nicht ganz ernst gemeinten Installation, amüsiert beklatschen. Mittlerweile sind auch die langen, weiß gedeckten Tafeln im Foyer nach großen Premieren ein beliebter Brauch. Da bewirtet die frankofon Intendantin ihr Publikum mit Käse, Weißbrot und Wein. Im Winter ist es eingeladen, sich im temporären Sauna-Bau auf der Kampnagel-Plaza aufzuwärmen oder im August beim internationalen Sommerfestival in der lauschig gestalteten Gartenanlage am Osterbekkanal zu feiern und zu tanzen. "Wir wollen die Zugangsschwellen zu den zeitgenössischen Künsten senken und das Publikum zum Austausch mit den Künstlern einladen. Der rege Zulauf zu unseren Publikumsgesprächen zeigt das Interesse am Dialog, der oft bei einer coolen Party im Club fortgesetzt wird."

Deuflhards dialogisches und gastliches Kampnagel-Konzept kommt gut an. Sie konnte in den fünf vergangenen Spielzeiten die Besucherzahl von 100.000 auf 170.000 inklusive aller Festivals, Konzerte und Veranstaltungen steigern. Natürlich hat auch ihr interdisziplinär erweitertes Programm mit Eigen- und Koproduktionen und attraktiven internationalen Gastspielen einen wesentlichen Anteil daran. "Wir arbeiten bewusst an den Schnittstellen der Sparten, bieten nicht nur Theaterexperimente, Musiktheater, Performance und Tanz, sondern kooperieren auch mit bildenden Künstlern und Architekten, die Räume gestalten." Auf Kampnagel wird ebenfalls mit Fachleuten und Wissenschaftlern über Fragen der Stadtentwicklung und über die Zukunft der Städte nachgedacht und Visionen entwickelt für das Zusammenleben im 21. Jahrhundert. Das bringt unterschiedliche Interessens- und Publikumsgruppen in die Hallen. "Wir haben viel junges Publikum, aber auch genauso ein bürgerliches, das in anderen Häusern anzutreffen ist. Alle Altersgruppen sind hier vertreten, von Kindern bis zu 80-Jährigen." Die Intendantin hat im Hallenkomplex auf dem 12.000 Quadratmeter großen historischen Fabrikgelände immerhin fünf Säle zu bespielen, nutzt aber zudem das gesamte Gelände temporär für Installationen. "Die Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern wie Antony Gormley, Tino Segal oder Rabih Mroué schafft neue Verknüpfungen und bringt Besucher in die Hallen, die sonst auf Vernissagen zu sehen sind."

Eigentlich hätte Amelie Deuflhard an diesem Tag nach Wien fliegen müssen. Sie war Mitglied der Kommission zur Evaluierung der dortigen Privattheater, doch die Pressekonferenz zur Veröffentlichung der Ergebnisse wurde verschoben. Ein Bewerbungsgespräch hat sie schon hinter sich, entspannte sich davon am Kicker. Am Nachmittag nimmt sie an einer Diskussion in der Handelskammer teil, danach stehen fünf Vorstellungen auf dem Kampnagel-Programm. Nach "Distortion", der Produktion der HipHop Academy mit Constanza Macras, leitet Deuflhard ein Publikumsgespräch mit der Choreografin, die sie in Berlin entdeckt, herausgebracht und international bekannt gemacht hat. Dann ist noch immer nicht Schluss. Auf der Agenda steht noch ein Treffen mit der Kollegin Carena Schlewitt, der künstlerischen Leiterin der Kaserne Basel, um an gemeinsamen Produktionen zu tüfteln. Deuflhard arbeitet noch in anderen Gremien mit, ist wegen ihrer rhetorischen Gaben eine begehrte Diskussionsteilnehmerin und gibt derzeit noch ein Seminar über Festival-Dramaturgie und Dramaturgie Freier Spielstätten für Studenten der Theaterakademie.

Wie schafft sie das alles auf Dauer? "Früher, als meine Kinder noch zu Hause wohnten, habe ich immer gesagt: Ich habe drei Leben. Das mit ihnen, das Theater, und wenn ich mal entwischen konnte, das Wochenende auf dem Land. Seit die Kids studieren, verbringe ich weniger intensiv Zeit mit ihnen." Aber gerade ist die 22-jährige Psychologiestudentin Valerie in Hamburg. "Sie ist ein echter Fan der Choreografin Constanza Macras und besucht auch gleich Mutter und Oma." Die Kinder schauen auch regelmäßig im Landhaus im Havelland vorbei. "Beim Gärtnern und Kochen entspanne ich mich, sitze gern mit Familie, Freunden und Gästen zusammen."

Zu ihrer Überraschung hat sich die Berlinerin ("Nach 20 Jahren dort fühle ich mich so") schnell und gut in Hamburg eingelebt. "Ich muss sagen, das hätte ich nicht gedacht. Ich genieße das viele Wasser hier, habe mich rasch in Hamburg vernetzt und sehr viele Menschen kennengelernt. Das hat natürlich damit zu tun, dass ich mein Umfeld gestalten kann. Hier habe ich auch viele spannende Künstler aus der lokalen Szene kennengelernt, mit denen wir regelmäßig arbeiten und die eine starke Identifikation mit dem Haus haben, wie die Regisseurinnen Angela Richter und Monika Gintersdorfer, die Kollektive Ligna und Geheimagentur oder die Choreografen Antje Pfundtner und Sebastian Matthias." Dass sie sich in Hamburg heimisch fühlt, hat auch mit Kampnagel zu tun. "Ich kann an diesem Ort die Bandbreite von den Ikonen der Avantgarde bis zu den jungen experimentellen Künstlern aufmachen. Das finde ich großartig, und deshalb fühle ich mich hier auch zu Hause. Kampnagel ist zwar ein alter, historisch gewachsener Ort, aber er ist längst mit sehr konkreten Erwartungen verbunden. Auf Kampnagel wird kein künstlerischer Mainstream erwartet, die Besucher sind bereit, sich auf etwas einzulassen, das sie noch nicht kennen. Zeigt Monika Gintersdorfer einen 'Othello', ist das natürlich kein 'Othello' wie im Stadttheater."

Auch wenn sich die Schwäbin als Berlinerin und vielleicht ein Stück weit auch schon als Hamburgerin fühlt, in Gedanken und Werken handelt die leidenschaftliche Theaterfrau als Weltbürgerin. "Man findet in unseren Städten inzwischen doch die Welt wieder. In Hamburg sind knapp 50 Prozent der Kinder migrantischer Herkunft. Wir arbeiten mit unseren Künstlern daran, dass die Menschen die internationale Stadtgesellschaft erkennen."