Jörn Walter hat als Hamburgs Oberbaudirektor nicht nur Gebäude, ganze Quartiere und ihre Menschen im Auge. In Dresden verliebte er sich in Barock.

Der Weg von der Stadtentwicklungsbehörde zum Stadtmodell an der Wexstraße dauert nur ein paar Minuten. Man tritt aus dem Behördengebäude, wendet sich nach rechts. Nach gut 50 Metern, an der Ampel, geht es links hinüber über die viel befahrene Stadthausbrücke und dann hinein in die Wexstraße. Ein leichter Anstieg folgt, keine 100 Meter, und man ist da.

Hamburgs süßigkeitsverliebter Oberbaudirektor Jörn Walter schafft es auf dieser Strecke nicht einmal, ein Stück Kuchen aus der Tüte zu nesteln. Wenn der 55-Jährige erzählt, bleibt wenig Platz für andere Dinge. Walter spricht nicht nur. Er erklärt. Er beschreibt. Er zitiert. Dabei klingt seine Stimme unaufdringlich. Seine Worte sind angenehm frei von Eitelkeit.

Eine Hürde muss man im Gespräch mit dem Oberbaudirektor überwinden. Egal, was man ihn fragt: Er landet mit seiner Antwort fast immer bei Architektur oder Stadtentwicklung. Das ist vor allem dann ein Problem, wenn man mit ihm über Persönliches sprechen möchte. Freundlich verschlossen ist er also, der Oberbaudirektor. Aber auch von Kindesbeinen an in die Richtung seiner Berufswahl gedrängt.

"Mein Vater war Architekt", sagt Walter und nennt es "Vorbelastung". Seine Stimme hebt an, als müsse er in einem großen Theatersaal einen Monolog sprechen: "Ich bin als Kind zu allen Kirchen geschleppt worden, was ich gehasst habe. Wo immer wir hinkamen, wurden sich Gebäude angeschaut: entweder alte oder neue." Und, na ja, es gab halt überall etwas zu sehen.

Heute, selbst eine Institution bei Hamburgs Stadtplanern, sieht und macht er es nicht anders. "Das ist ja das Tolle an meinem Beruf: Egal, wohin man kommt auf dieser Erde - es gibt immer etwas anzugucken." Wohl auch deshalb hat Jörn Walter keinen Beruf, sondern eine Berufung. "Stadtplanung und Architektur sind ein so weites Feld, dessen Ende man in seinem ganzen Leben nie erreichen wird."

Das Kreative wird Jörn Walter in die Wiege gelegt. Die Mutter Modeschneiderin, der Vater eben Architekt. Eines aber ist ihm schon als Gymnasiasten klar: "Ich wollte keinesfalls das Büro meines Vaters übernehmen." Um jeder Versuchung, auf diese Idee zu kommen, den Boden zu entziehen, wendet er sich nicht der Architektur, sondern dem Städtebau zu. Nach dem Abitur 1976 in Frankfurt am Main studiert Walter an der Universität Dortmund Raumplanung. Damals ein Novum, da es ein entsprechendes Angebot deutschlandweit nur an drei Universitäten gab.

"Mich interessierte immer der Zusammenhang von gestalterischen, technischen und gesellschaftlichen Themen", sagt er. Beim Städtebau geht es um das Ganze: "Wie organisiere ich ein Verkehrssystem? Wie organisiere ich das Zusammenleben vieler Menschen auf engstem Raum?" Walter spricht von einem anderen "intellektuellen Maßstab" als beim Bau eines Hauses und meint die Gestaltung von Quartieren oder einer ganzen Stadt.

Die große Chance kommt rasch, im Jahr 1991. Eigentlich ist Jörn Walter der Meinung, dass die Ostdeutschen nach dem Mauerfall nicht unbedingt Leute aus dem Westen nötig haben, die alles besser wissen. Doch der junge Stadtplaner wird angesprochen, bewirbt sich und gewinnt das Auswahlverfahren. Bis zu seinem Wechsel nach Hamburg im Jahr 1999 leitet er fortan das Stadtplanungsamt von Dresden.

Mit seinem Wechsel in die sächsische Landeshauptstadt tut sich für den 36-Jährigen eine neue Welt auf. "Ich war ein Unbekannter, gerade mal fünf Jahre im Beruf." Die Stadt selbst kennt er zu dem Zeitpunkt von zwei, drei Besuchen nur flüchtig. Aber sie interessiert ihn brennend. "Mein Großvater mütterlicherseits stammte aus der Gegend und hielt Dresden für die schönste Stadt der Welt." Dresden hilft ihm, das Zeitalter des Barock lieben zu lernen, zu dem er wegen des überbordenden Dekors vorher wenig Beziehung hatte. "Es gibt keine Bauperiode, die die Proportionen so perfekt beherrscht hat", sagt Walter. Er schwärmt vom Zwinger, der Frauenkirche und - vor allem - der Hofkirche. "Sie wurden für 3000 Menschen geschaffen und wirken doch so zierlich. Es ist einfach unglaublich, was der Barock da geleistet hat."

Doch es ist nicht nur die baukulturelle Bedeutung der Elbmetropole, die Walter fasziniert. Der Stadtplaner erlebt dort aus erster Hand den Umbruch nach der deutschen Wiedervereinigung. "Es war eine extrem dynamische Zeit", sagt Walter heute. Vor allem die ersten vier, fünf Jahre nach der Wende haben es in sich. Noch gibt es die (westdeutschen) Strukturen und Mechanismen der Macht im Osten nicht.

"Ich habe erlebt, was Demokratie, die über eine Parteiendemokratie hinausgeht, wirklich bedeuten kann", sagt Walter. Es ist anstrengend und aufregend zugleich. Bis in die Nacht dauern die Sitzungen, Übermüdung und Diskussionslust gehören zum Alltag. "Es gab keinen Fraktionszwang, weil nach der SED-Zeit alle Beteiligten allergisch auf Vorgaben von Oben reagierten." Mehrheiten müssen bei jeder Sitzung neu gewonnen werden - nicht par ordre du mufti, sondern durch Argumente und Überzeugungskraft.

"Es waren Individuen, die da saßen, und sie haben sich auch so verstanden", erzählt Walter. Er lernt in jener Zeit, geschliffen wie fundiert zu reden. Und zuzuhören. Er genießt es, ausführlich über städtebauliche Ideen diskutieren zu können, ohne dass gleich immer die Frage von Bezahlbarkeit oder Machbarkeit im Raum steht.

"Dresden war über Jahrhunderte eine Residenzstadt." Residenzstädte aber ticken anders. Man will sich viel leisten und weiß zugleich um die Abhängigkeit vom König - sei es nun August der Starke oder Kurt Biedenkopf. "Es ist ganz klar, wer am Ende bezahlen soll." Auch wenn Walter die Zeit in Dresden genießt, so liegen ihm republikanische Kaufmannsstädte wie Hamburg oder Bremen näher. "Ich bin Hanseat und für mich gilt: Was du selber forderst, musst du auch selber machen."

1999 wird Walter Hamburgs Oberbaudirektor. Er weiß von Anfang an um die großen Fußstapfen seiner Vorgänger. Vor allem Fritz Schumacher ist ihm allgegenwärtig. Auch, weil dieser - wie er selbst - in Bremen geboren wurde und vor seinem Hamburger Engagement in Dresden gearbeitet hatte.

"Fritz Schumacher war eine Ausnahmeerscheinung, an der ich mich nicht so ohne Weiteres messen lassen würde", sagt Walter. "Ich kann nur anstreben, ihm nahezukommen." Es ist vor allem Schumachers bedächtige Haltung gegenüber allzu vordergründigen modernistischen Forderungen, die Walter es angetan hat. "Schumacher war ein Reformer, aber kein Revolutionär." Anders als Bauhaus-Gründer Walter Gropius oder Bruno Taut, der durch die Großsiedlungen in Berlin bekannt wurde, aber auch anders als Schmitthenner und die damals traditionalistische Stuttgarter Schule, stand Schumacher "zwischen den Traditionalisten und Modernisten", erzählt Walter. "Und da sehe ich mich auch."

Da ist es wieder, das Ausgewogene in Jörn Walter, das oft seine Ausführungen kennzeichnet. Seine Sicht der Dinge wirkt differenziert, manchmal ein wenig distanziert. Jörn Walter scheint ein Mensch der Zwischentöne. Ein Macher, der Extreme meidet und - stetige Veränderung anerkennend - der Evolution den Vorzug vor dem Radikalen gibt. Das verbindet ihn mit Hamburg und seiner Tradition: "Irrtümer vermeiden und die Stadt mit großer Kontinuität in die Zukunft zu entwickeln."

"Es gibt keine Zukunft ohne Vergangenheit", sagt Walter. Er liebt den französischen Schriftsteller Marcel Proust und dessen Hauptwerk "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". "Die genaue Kenntnis der Geschichte führt dazu, dass man die abstrakten Grundlinien erfassen, das Untergegangene vom Kommenden unterscheiden und sich damit der Zukunft zuwenden kann."

Die Vergangenheit mit der Zukunft verbinden - das ist das große Thema, das Jörn Walter bewegt. Als Beispiel führt er das Puppenmuseum auf dem Falkenstein an. "Das Gebäude bringt zum Ausdruck, was es heißt, sich der Zukunft zuzuwenden, das aber in guter Kenntnis der Vergangenheit zu tun." Obwohl das Haus in der Tradition der "Weißen Villen" des Elbhanges steht, verfügt es über eine Dynamik und Formensprache, die zur Zeit seines Entstehens mit vielen Konventionen brach.

Nach fast 13 Jahren im Amt stellt sich die Frage, ob er in vier Jahren eine dritte Amtszeit anhängt. Walter zuckt mit den Schultern. "Kontinuität in diesem Amt hat Hamburg ausgezeichnet", sagt er und fügt hinzu: "Das haben andere zu entscheiden."

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbild gelten. Jörn Walter bekam den Faden von Willfried Maier und gibt ihn an Hermann Rauhe weiter