Halbe Irin, ganzer Dickkopf: Wie die Opernchefin gegen den Willen der Eltern Musikerin wurde und Männerbastionen knackte.

Den Geruch von damals hat sie noch in der Nase. Den Geruch des großelterlichen Wohnzimmers in Sydney. "Es roch ein bisschen muffig." Die kleine Simone Young, geboren 1961, hat das nicht gestört, denn dort stand das Klavier. Während sich das Familienleben in anderen Räumen abspielt, fühlt sie sich von dem Kasten magisch angezogen. Und entdeckt, dass Töne ihre Welt sind, ihre ganz eigene. Ein Raum, in dem die anderen nicht mitreden können.

Ihr Vater ist Rechtsanwalt, ein Onkel Arzt, "ich komme aus völlig unmusikalischen Verhältnissen". Zwar steht später zu Hause auch ein Klavier, und die Familie schaut stolz zu, wenn Simone sonntags vorspielen muss. "Das hab ich gehasst und meinen Kindern nie angetan." Abends ist das Wohnzimmer wieder ihre Ecke, wo sie viel übt. Und viel liest: "Ich konnte Tonleitern am Klavier üben und dabei Bücher lesen, von denen meine Eltern nicht wissen sollten, dass ich sie lese."

Rechtsanwalt oder Arzt - die Familie erwartet, dass Simone Young einen dieser Wege geht. "Musik hat mich fasziniert, aber ich war genauso flott mit Literatur, Sprachen und Mathe. Ich wollte ernsthaft Jura studieren. Aber während ich das Abitur schrieb, war ich schon bei vier verschiedenen Musiktheaterstücken beteiligt." Da dirigiert sie auch zum ersten Mal. "Meine selbst komponierte Operette, im letzten Schuljahr, da war ich 17."

Sie entwickelt die Idee, Jura nebenbei zu studieren und weiter Musik machen. Am Ende gewinnt die Musik. Die Eltern sind dagegen, die Tochter zieht aus. "Ich habe gekellnert, Studium und Unterkunft selbst finanziert. Alle hofften, dass ich bald einsehe, dass das Unsinn ist. Als Mutter versteh ich heute die Sicht meiner Eltern schon - was war damals schon die Zukunft für eine Pianistin und Komponistin? Verhungern in einer Ecke und unbegabten Achtjährigen Klavierunterricht geben - so haben sie das gesehen."

Simone Young, seit sieben Jahre Intendantin der Hamburger Staatsoper und Generalmusikdirektorin der Philharmoniker Hamburg, wirkt sehr entspannt bei diesem Rückblick. Vor einem Jahr hat sie beschlossen, ihren Vertrag nicht ein zweites Mal zu verlängern. Die Spielzeiten bis Mitte 2015 sind durchgeplant. In ihrem Kalender finden sich schon Dirigate bis 2017/2018. "In ein paar Jahren bin ich dafür noch ein bisschen freier als heute."

Wenn sie sich da etwas wünschen dürfte? "Es ist schön und erschreckend, dass ich mit 51 fast alles gemacht habe, wovon ich je geträumt habe." Wie wär's mit Wagner in Bayreuth? Als erste Frau dort am Pult? "Das wär sicher schön, aber ich sitze nicht am Telefon und warte, dass es klingelt. Außerdem hab ich da ja mal als Barenboims Assistentin einen kompletten zweiten Akt 'Walküre' bei einer Probe dirigiert." Und andere Träume? "In meiner Heimat Sydney einen 'Ring' dirigieren. Den gab's dort bisher leider nur konzertant."

Zurück zu den Anfängen - über das Komponieren ist sie zum Dirigieren gekommen? "Ich habe Sänger begleitet. Von da aus ging der Weg zur Oper, wo sich alle Fäden meiner Fähigkeiten verknüpft haben." Mit 24 debütiert sie als Dirigentin im Sydney Opera House. "Die haben mich um vier Uhr nachmittags angerufen, dass ich am Abend einspringen soll bei 'Der Mikado' von Gilbert und Sullivan. Und ich wollte erst mal ganz schnell ganz weit weg ..."

Bald dirigiert sie nicht nur, weil Not am Mann ist. "Mich hat immer der Wunsch angetrieben, Musik so zu gestalten, wie ich das im Kopf hatte. Solange ich Künstlern zuarbeiten konnte, als Pianistin, als Assistentin, die etwas genau so gemacht haben, wie ich mir das vorstellte, war ich glücklich. Aber es gab - zum Glück für mich - eine Zeit, so mit Mitte 20, wo das nicht so war. Da wollte ich das dann selber machen."

Das klingt nach Notwehr. "Ja." Sie spürt aber schnell, dass Dirigieren ihrer Natur entspricht "und dass das Orchester das aufnimmt. Und dann hatte ich zwei tolle Chefs, James Conlon und Daniel Barenboim. Zum Glück habe ich die erst später kennengelernt. Hätte ich nur diesen beiden assistiert, hätte ich vielleicht nie selber zum Taktstock gegriffen."

Dirigenten brauchen viel Selbstbewusstsein. Woher nimmt sie das? "Das meiste haben mir die Orchester gegeben. Bei den Intendanten war eher Skepsis. Als ich 1986 nach Köln kam, war ich erst 25. Die meisten 25-Jährigen waren noch an der Uni. Ich hatte schon drei Jahre Berufserfahrungen hinter mir an der Oper in Sydney, hatte mehr als 40 Vorstellungen dirigiert, von Operetten bis zu zeitgenössischer Musik." Solche Skepsis treibt sie an. "Fast jeder hatte mal einen Lehrer, der sagte: 'Lass es, das wird nichts.' Genau dann will ich den Beweis liefern, dass er nicht recht hat." Ist sie ein Dickkopf? "O ja, ich bin ja zur Hälfte Irin."

Ihre Arbeitswut, der Genauigkeitsfanatismus - könnte es sein, dass sich die Frau am Pult noch immer mehr beweisen muss als ein Mann? Sie lacht. "Nehmen Sie Zubin Mehta, Barenboim, Thielemann - drei sehr unterschiedliche Körperfiguren, Größen und musikalische Visionen. Das Geschlecht hat mit musikalischer Qualität so wenig zu tun wie mit Körpermaßen." Und Unterschiede in den Empfindungen? "Wenn die geschlechtsspezifisch wären, müsste man fragen: Wo stehen da die homosexuellen Kollegen? Ich halte von der Geschlechterfrage gar nichts."

Männerbastionen hat sie deshalb immer hurtig geknackt - 1993 stand sie als erste Frau am Pult der Wiener Philharmoniker und durfte wiederkommen. "Ein besonderes Orchester. Nächstes Jahr ist das 20 Jahre her. Ich hab gerade eine Serie 'Meistersinger' mit denen gemacht, das bringt richtig Spaß." Wo sonst macht ihr Musik so viel Spaß? "Wenn man die Musik mit Menschen teilt, die man mag. Das ist das Allerschönste. Egal, ob es ein 'Tristan' ist oder man zu Hause sitzt mit einem guten Kumpel und vierhändig spielt. Ich glaube, das haben wir Nichtmusikern voraus. Wir können mit unserer Begabung und unserem Können wirklich Liebe an Menschen weitergeben."

Diese Glücksmomente, wie oft spürt man die? "Sie sind nicht sehr häufig. Vor allem nicht in der Oper, da gibt es tausend Ablenkungen und Möglichkeiten, dass etwas schiefläuft. Aber wenn sie passieren, ist das wie Fliegen: die Idee, dass man völlig frei ist, schwebt und von etwas anderem getragen wird. Und man ist ein Teil von etwas, das viel größer ist als man selbst. Ein fantastisches Gefühl, fast unmöglich zu beschreiben." Beispiele? "Der erste 'Simon Boccanegra' in Hamburg - da hat einfach alles gestimmt."

Überhaupt Hamburg. "Die Hamburger sprechen viel kritischer über ihre Stadt als die Leute draußen. In Wien, London, Berlin oder Paris - alle reden, was für tolle Sachen sie aus Hamburg hören. Alle fragen auch: Wann wird die Elbphilharmonie fertig? Alle freuen sich drauf." Sie selbst muss wohl auf ein Gastkonzert nach ihrer Hamburger Zeit hoffen. Stattdessen freut sie sich derzeit zum Beispiel über 16 Takte, die sie neu entdeckt in die "Rienzi"-Ouvertüre einfügen konnte, wenn sie die Oper im Januar zum Beginn ihres Wagner-Jahres konzertant aufführt.

Simone Young, in Hamburg 2005 begrüßt wie eine Schwanenritterin, ärgert sich nicht mehr laut über bissige Kritiken. "In der Branche hat das Haus einen sehr guten Status, überregional und international. Das interessiert mich, die Meldungen von Regisseuren, dass das Haus super funktioniert, von Ensemble-Leuten, die hier für die Hälfte der Gage bleiben, die sie in Berlin verdienen könnten - weil sie das Arbeitsklima sehr schätzen. Es ist ein gesundes Opernhaus." Da ist jemand mit sich im Reinen. Natürlich weiß sie schon, mit welcher Oper sie 2015 ihren Schlusspunkt setzen wird, verraten darf sie's nicht. "Aber das werden alle sehr aufregend finden."

Nach Bruckners "Achter" hat sie in Birmingham vor zwei Wochen mit ihrem Mann den 31. Hochzeitstag gefeiert. Und ein bisschen Bilanz gezogen? "Auch. Meine älteste Tochter Yvann ist 25, arbeitet im Finanzbereich in London. Lucie, die Jüngere, ist in der 10. Klasse an der Sophie-Barat-Schule. Und meine Taktstöcke halten sehr viel länger, seit sie nicht mehr damit Harry Potter spielt. Greg, der sich die ersten Jahre in Hamburg sehr um Lucie gekümmert hat, hat jetzt angefangen, zu schreiben. Als wir da beim Essen saßen, haben wir uns angeschaut und wussten beide: Was wir am Anfang gesagt haben, stimmt immer noch - das Leben wird nie langweilig."

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die Besonderes für diese Stadt leisten, die in Hamburg als Vorbilder gelten. Simone Young bekam den Faden von Dirk Rosenkranz und gibt ihn an Albert Wiederspiel weiter.