Vor 35 Jahren zündete sich in Hamburg der Tübinger Lehrer Hartmut Gründler an, der im Kampf gegen die Atomkraft an seinen Idealen zerbrach.

Die Geschichte von Hartmut Gründler taugt nicht zum Helden-Mythos. Vielleicht glaubte der Lehrer aus Tübingen, er handele im Namen vieler, wenn er auf so grausame Weise aus dem Leben scheiden würde. Gründler war Teil einer Bewegung, und doch war er ein Einzelkämpfer. Ein Getriebener, der den unauflöslichen Widerspruch zwischen den eigenen hehren Ansprüchen und der politischen Wirklichkeit jener Tage durch eine fanatische Tat zu überwinden suchte. Eine Tat, die letztlich vor allem eines ist: das entsetzliche Ende eines Menschen, der zu allem bereit war - und der an seinen Idealen zerbrochen ist.

Abgesehen von einigen gealterten Aktivisten der Anti-Atomkraft- und Friedensbewegung erinnert sich heute kaum noch jemand an den Mann, der auf so entsetzliche Weise ein Fanal setzen wollte. Hartmut Gründler erreichte sein Ziel, als er am 21. November 1977 starb. Fünf Tage zuvor hatte sich der 47-Jährige aus Protest gegen die deutsche Atompolitik vor der Hauptkirche St. Petri mit Benzin übergegossen und angezündet. Seine Tat wollte er als politisches Statement verstanden wissen.

Die 70er-Jahre sind das Jahrzehnt der Kernenergie - und des aufkeimenden Protests dagegen. Überall schießen Atomkraftwerke aus dem Boden oder werden - wie in Wyhl oder Neckarwestheim - neu geplant. Doch wo Meiler gebaut werden, regt sich Widerstand. Aus lokalen Gruppen werden regionale Initiativen, aus den Initiativen die Anti-Atomkraft-Bewegung. Hunderttausende ziehen auf die Straße und vor die AKW-Baustellen. Zum Slogan der Bewegung wird "Kein AKW in X und anderswo" - Brokdorf zu ihrem Symbol.

Hartmut Gründler steht an vorderster Front. Schon in jungen Jahren hat der Pfarrerssohn sein Leben nach den Lehren und der Philosophie Mahatma Gandhis ausgerichtet. Gründler wird nach dem Abitur Maurer, studiert Architektur, bricht ab und wird Volksschullehrer. 1967 schreibt er sich für pädagogische Psychologie und Allgemeine Sprachwissenschaft ein, beginnt mit 39 Jahren seine Doktorarbeit.

Parallel engagiert er sich bei Umweltschutzverbänden, die damals noch fest verankert sind in der marxistisch-leninistischen Polit-Szene. Der hochintelligente Mann hat es sich zur Aufgabe gemacht, die PR-Tricks der Atom-Lobby, die von "Entsorgungsparks" statt atomaren Endlagern spricht, mit den Mitteln der Linguistik zu entlarven. 1971 gründet er den Tübinger Bund für Umweltschutz (BfU). Doch der kantige Eigenbrötler mag sich keinen Mehrheitsbeschlüssen fügen - er fliegt raus und gründet 1972 den "Arbeitskreis Lebensschutz - gewaltfreie Aktion Umweltschutz e. V.", gibt seine Lehrtätigkeit auf, weil er sich nun ganz seiner Mission widmen will.

Voller Eifer bombardiert er Politiker und Industriebosse mit Briefen, in vier Jahren sind es mehr als 500. Er protestiert gegen Hochhäuser auf Sylt, geißelt das Mensaessen Tübinger Studenten und stößt Klagen gegen geplante Atomkraftwerke an. Er tippt sich fast die Finger wund, schreibt Briefe an den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, an den österreichischen Kanzler Bruno Kreisky, ab März 1975 wendet er sich auch an Bundeskanzler Helmut Schmidt. Am meisten widert ihn an, dass die Politiker, wenn sie über Kernenergie sprechen, nicht aufrichtig sind. Aufrichtigkeit, das ist es, was Gründler mit seinen immer verschrobeneren Aktionen immer schriller einfordert. Er kettet sich an Kirchen, 1975 etwa an die Stiftskirche in Stuttgart, tritt immer wieder in Hunger- und Durststreiks, so auf dem AKW-Bauplatz in Wyhl am Kaiserstuhl.

Auf dem Hamburger Parteitag der SPD im November 1977 soll der Ausbau der Kernenergie beschlossen werden. Die Politiker treffen sich im Congress Centrum. In einem Wohnwagen, den Unterstützer unweit des CCH aufstellen sollen, will Gründler sich zu Tode hungern. Doch der Wohnwagen ist nicht da, Gründler schwer enttäuscht und nun gewillt, bis zum Äußersten zu gehen - er will als "lebende Fackel des Protests" sterben. "Nach Erschöpfung aller anderen Mittel, auch dem des Hungerstreiks, greife ich nun zur letzten äußersten Form des Protestes. Ich will um der seit Jahren geschändeten Würde des Menschen willen sterben", schreibt er in seinem Abschiedsbrief. In seinem Letzten Willen setzt er Bundespräsident Walter Scheel, Helmut Schmidt und Hans Matthöfer als seine Erben ein. In einem Brief an Schmidt vom 14. November, in dem er von sich nur noch in der dritten Person spricht, schreibt er von einem "Feuerzeichen", das er setzen wolle.

Allein fährt er am Nachmittag des 16. November zur Hauptkirche. Er hat einen Kanister mit Benzin dabei und ein Exemplar von Schmidts Buch "Als Christ in der politischen Entscheidung", nur wenige Meter entfernt vom Denkmal für Dietrich Bonhoeffer übergießt er sich mit dem Benzin, zündet sich an. Die Besatzung eines Peterwagens entdeckt den brennenden Mann und bringt ihn ins Krankenhaus St. Georg. 80 Prozent seiner Haut sind zerstört, er hat keine Chance. Helmut Schmidt sagt auf dem SPD-Parteitag, er lasse sich nicht eine Politik, die zahlreiche Arbeitsplätze schaffe, von einem "wohlmeinenden Idealisten" kaputt machen. Fünf Tage später stirbt Gründler, ohne vorher noch einmal aus dem Koma zu erwachen. Sympathisanten sehen in der Selbstverbrennung vor allem einen Akt des Widerstandes, ähnlich dem des Pfarrers Oskar Brüsewitz, der sich im August 1976 aus Protest gegen das SED-Regime angezündet hatte. Eine Hamburger Polizei-Eskorte begleitet den Sarg mit Gründlers Überresten bis zur Landesgrenze, beigesetzt wird er auf dem Bergfriedhof in Tübingen, mehr als 1000 Trauergäste sind dort.

Das letzte Wort aber hat der Mann, der für seine Überzeugung auf so grausame Weise sein Leben ließ. In seinem Letzten Willen hat er verfügt, dass Schmidts Buch auf seinen Sarg genagelt wird - so wird es gemacht. Auf seinem Grabstein steht: "Ein Leben für die Wahrheit/ein Tod gegen die Lüge".