Knallharte Regeln, durchgetaktete Tage: Junge Täter werden nicht nur bestraft, sondern auch auf ein anderes Leben danach vorbereitet.

Die Vorhölle liegt im Paradies, gleich gegenüber von Wittenbergen. Hahnöfersand ist eine idyllische Halbinsel, die sich an die Elbe schmiegt - mit Krähen, Kranichen, Kormoranen. Der Blick schweift über Neßsand und den Fluss, der hier längst Strom ist, bis nach Blankenese und Wedel auf der anderen Seite. Hier könnte eine Ferienanlage stehen, ein Golfhotel, ein Naturpark. Doch hier liegt hinter hohem Stacheldraht der Jugendknast, hier liegen die Trümmer einer gescheiterten Jugend, die gelangweilt aus den vergitterten Fenstern blickt.

Die Gitter teilen den Himmel in 18 Felder. Der Himmel über Hahnöfersand ist hoch, weit und unerreichbar. Erreichbar ist für die Inhaftierten der Station 3, der Sozialtherapie, nur das Innere ihrer Zellen. Es mögen neun, vielleicht zehn Quadratmeter sein. Das schmale Bett auf der einen Seite, gegenüber auf der anderen Seite ein Stuhl, ein Tisch, meist noch ein CD-Spieler und ein Fernseher. Gleich vorne neben dem Eingang die Toilette und ein kleines Waschbecken mit fließend kaltem Wasser. Ein winziges Stück Individualität geben die Poster, die sich die Gefangenen aufhängen. Die Motive sind meist die gleichen: Rapper, Sportler und spärlich bekleidete Damen.

Hier leben Mehmet*, Markus, Metin und Kevin. Jungs zwischen 16 und 22 mit einem Vorstrafenregister, das zu lang ist, als dass es eine Gesellschaft tolerieren kann. Sie sind Prügler und Räuber, Totschläger und Mörder. Die Schwere der Taten passt kaum zu ihren mitunter kindlichen Gesichtern, ihrem schlurfenden Gang, ihrer unbedarften Albernheit, ihrer verkrampften Lässigkeit. So unterschiedlich ihre Taten, so unterschiedlich die Statur, so unterschiedlich die Herkunft. Und doch decken sich ihre Biografien. Ihre Taten sind böse, die Jungs wirken zwar nicht so, aber sind Verirrte, Gestörte, Gestrandete. Sie sind Opfer, die zu Tätern wurden.

Früh standen sie auf der Schattenseite des Lebens. Ihre Heimat liegt nicht in Rissen oder Alsterdorf, sie haben gar keine. Aufgewachsen sind sie meist in Harburg, Wilhelmsburg oder Billstedt. Ihr Elternhaus war kaum ein Zuhause. Meistens gingen die Ehen früh in die Brüche oder Väter und Mütter arbeiteten rund um die Uhr an dem Traum vom sozialen Aufstieg - und verloren dabei ihre Kinder an die Straße. Einige haben in Kindertagen mehr Gewalt erlebt als die meisten in einem ganzen Leben. Die Schulkarrieren der Jungs scheiterten früh, ihr Glück suchten sie im Rausch, ihre Bestätigung erhofften sie in Gewalt, ihre Zuflucht fanden sie im Konsum. Hier auf Hahnöfersand scheinen die Klischees ausnahmsweise zu stimmen. "Die Faktoren sind auffällig", sagt auch Anstaltsleiterin Jessica Oeser. "Oft sind es die Eltern, die versagen, die nicht da oder überfordert sind." Ein heiles Elternhaus ist bei diesen Jugendlichen eine absolute Seltenheit. Viele Schulschwänzer sind unter den Inhaftierten, kaum einer hat einen Abschluss geschafft. "Die Jungs sind durch das System gefallen."

Miro muss noch 19 Monate einsitzen, doch schon heute streicht er die Tage bis zur Entlassung ab. Seit einigen Monaten lebt der 22-Jährige in Haus 3, der Sozialtherapie, die intensive Betreuung mit einem größeren Maß an Freiheiten verbindet. Freiheit, das heißt hier, seine Wäsche selbst waschen zu können, die Türen zu den Zellen stehen bis zum Einschluss offen, die Jungen dürfen sich in ihrer Freizeit frei im Haus bewegen. Jede Woche dürfen die Inhaftierten Besuch empfangen, alle zwei Wochen kommen Ehrenamtliche, um mit den Jungen zu kochen. Hier hat das Leben Struktur - und erstmals kommt Struktur ins Leben von Miro. Er ist der Älteste von fünf Geschwistern, der Vater musste die Familie allein durchbringen, nachdem die Mutter die sechs verließ. Miro erzählt, sein Vater sei nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten, habe seinem Ältesten alle Wünsche erfüllt. Und irgendwie schämt er sich. "Kein Vater freut sich, wenn sein Sohn im Knast ist."

Er geriet rasch auf eine schiefe Bahn. "Ich hatte kein Interesse an Schule", sagt Miro. "Ich war von Anfang an zu schlecht. Ich habe geschwänzt, bin rausgeflogen, von Schule zu Schule gewechselt."

Es gab nichts, was ihn interessierte, nichts außer "abhängen, Gras rauchen, Spaß haben". Das erste Mal bekam er Ärger mit der Polizei wegen Drogen; der erste Richterspruch - 200 Euro Geldstrafe und Sozialauflagen - schreckte ihn nicht. Weitere Vergehen kamen hinzu und steigerten sich bis zu Raubüberfall und Körperverletzung. "Man weiß, dass es nicht gut ist, aber man kann sich was kaufen", sagt Miro rückblickend. "Es hat mir Spaß gemacht, so zu leben." Ein Leben, das ihn auf eine gottverlassene Halbinsel in der Elbe führte. Ob Hahnöfersand ein Wendepunkt seines Lebens wird oder eher der Einstieg in eine Knastkarriere, weiß Miro selbst nicht. Nur so viel weiß er: "Ich will nicht mit 30 in ,Santa Fu' sitzen." Nun macht er seinen Hauptschulabschluss und will sich, erst einmal draußen, eine Wohnung und einen Ausbildungsplatz suchen. "Ich will ja nicht von Hartz IV leben und jeden Euro dreimal umdrehen." Aber ob es ihm gelingt? "Ich bereite mich vor, aber ich weiß nicht, ob ich es schaffe."

Mathias Schwee ist Vollzugsbediensteter in Haus 3. Viele draußen halten Männer wie ihn für "Wärter" oder "Schließer", für die Jungs aber ist er erster Ansprechpartner, Kummerkasten, Vaterersatz. Und manchmal muss sich Schwee wie ein Etagenkellner vorkommen. Da klopfen die Jungs im Minutenrhythmus an den Glaskasten der Bediensteten, weil sie Klopapier, einen Löffel oder ein Pflaster brauchen. Jeder der Inhaftierten hat einen sogenannten Kontaktbeamten, der ihnen bei dem harten Leben in Haft helfen soll. "Wir schließen nicht nur Türen auf, wir besprechen Sorgen, helfen bei Anträgen und arbeiten in den Therapiesitzungen mit." Als Zeichen der besonderen Nähe tragen sie keine Uniformen, sondern Zivil. Sie sind Männer aus der Mitte des Volkes mit unterschiedlichen Ausbildungen. Schwee war zuvor Zeitsoldat, das macht manches hier leichter. Einfach ist der Job nicht, Zwölf-Stunden-Schichten, Dutzende Nachteinsätze, eine Arbeit, die manchmal an die Grenzen des physisch wie psychisch Erträglichen geht. Manchmal drehen die Inhaftierten durch, greifen Bedienstete an oder machen "Party" - sprich, werfen alles aus dem Fenster, was nicht niet- und nagelfest ist. Bürgerliches Verhalten kann man auf Hahnöfersand nicht erwarten: Es gibt Jugendliche, die ihr Fleisch mit Löffeln schneiden, weil sie Messer und Gabel gar nicht kennen. Und deren Hilflosigkeit sofort in Aggression umschlägt, weil sie mangels Selbstwertgefühl schon einen schiefen Blick als Angriff missverstehen.

In dem großartigen Buch "Deutschstunde" entwirft Siegfried Lenz ein plastisches Bild vom Leben auf einer Knastinsel in der Elbe in den 50er-Jahren. Viel mag sich seitdem im Strafvollzug geändert haben, eines aber ist geblieben: Insasse Siggi Jepsen hatte die engste Beziehung zu seinem "Wärter" Joswig, heute ist es oft nicht anders. "Manchmal baut man intensive Beziehungen auf", sagt Schwee. Einfach sei das nicht, "wir müssen den Spagat zwischen Sicherheit und Vertrauen, Autorität und Nähe hinbekommen." Er erzählt von Erfolgen und Enttäuschungen. "Es frustriert, wenn man neun Monate hier mit den Jungs gearbeitet hat und dann kommen sie nach der Freilassung bald wieder in Haft." Keine Therapie helfe, wenn draußen das Umfeld nicht funktioniere. "Wo soll der hin, der kein Zuhause hat?" Oft zeichne sich früh ab, ob Gefangenen der Absprung aus einer kriminellen Karriere gelinge oder das Gefängnistor zur Drehtür wird.

Es gibt Tage, da treffen ihn Stimmen wie ein Nackenschlag: "Hallo, Herr Schwee." Die Stimme kommt aus der Zelle und gehört einem Jungen, der dem Vollzugsbediensteten bekannt vorkommt. Die Stimme gehört Mustafa. Mustafa ist wieder da. Seit Kurzem sitzt er in Haus 1, der Untersuchungshaftabteilung. "Ein Irrtum", sagt er. Er sei unschuldig, sei nur dummerweise zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Dabei habe er sich gebessert, habe eineinhalb Jahre im Laden seines Onkels gearbeitet. "Ehrlich."

Viele kommen wieder. Der Knast ist eine harte Schule, der Vollzug ist Zuckerbrot und Peitsche und für viele das erste Mal Erziehung. So will es das Gesetz, so wollen es die Beamten. Es ist die einfachste Schule der Erziehung: Wohlverhalten wird belohnt, Fehlverhalten bestraft. Die Insassen lernen schnell, ja sind überraschend motiviert, grüßen höflich, zeigen, dass sie wollen. Doch spätestens nach der Entlassung stehen sie schnell wieder am Abgrund. Die alten falschen Freunde, die kaputten Familien. Und spätestens nach zwei Wochen vergleichen die Knästler von einst ihr neues Leben mit dem ihrer so coolen Kumpels. Hier sie, in Berufsintegrationsmaßnahmen mit ein paar Euro in der Tasche, dort die Freunde im BMW mit den sexy Mädels, die mit einem Tag Dealen mehr Geld machen als die Ehrlichen in einem Monat Arbeit. Es ist verdammt schwer, nicht rückfällig zu werden. "Eigentlich geht das nur mit einem Mädchen, das sie aus dem altem Leben reißt", sagt ein Beamter. Eine starke Freundin oder gar ein Baby sind die besten Bewährungshelfer.

Wenn man mit den Jungen spricht, bekommt man oft zu hören, Richter hätten ihnen früher die Grenzen aufzeigen müssen. Das sind gern gehörte Argumente für Hardliner - doch oft sind es auch Schutzbehauptungen. Nicht sie sind schuld, sondern eine weiche Justiz, die harte Jugend, der falsche Stadtteil. Schuld sind eben immer die anderen.

Der Knast macht einen noch schlimmer, sagt Miro. "Man trifft die falschen Leute." Und muss Enttäuschungen verkraften. Die alten Freunde haben sich längst entzaubert. "Von meinen 200 Kumpels haben mich hier vielleicht zehn besucht. Der Rest war Bluff."

Gibt es etwas, auf das du stolz bist, Miro? Der Junge zögert, ihm fällt nichts ein. Dabei hat er auf Hahnöfersand zu rauchen aufgehört, dort, wo Nichtraucher so selten sind wie Sonnentage im Hamburger November.

An den überquellenden Aschenbechern treffen sich alle vor Haus 3 - die Vollzugsbediensteten, die Psychologen, die Häftlinge.

Karen Rudolph ist Vollzugsabteilungsleiterin der JVA. Sie kennt ihre Jungs, ihre Fälle und "möchte keine Klischees herunterbeten". Seit acht Jahren ist sie im Job, er hat ihren Realismus geschärft. "Ich bin sicher nicht mehr so idealistisch, wie ich es vielleicht einmal war", sagt die Sozialpädagogin. "Man kann in einigen Monaten nicht reparieren, was zuvor in zwei Jahrzehnten versäumt wurde." Aber für die, die man erreiche, lohne der Einsatz. Es gibt die Häftlinge, die sich dankbar zeigen und wissen, dass sie ohne Inhaftierung ihren Hauptschulabschluss nie geschafft hätten. Und es gibt sogar ein paar, die es draußen schaffen und in Kontakt bleiben, die sich sporadisch melden und von ihren kleinen Erfolgen der Resozialisierung erzählen. Es sind diese Vorbilder, die Mut machen für eine Arbeit, die sich draußen kaum jemand vorstellen kann. Eine Arbeit mit körperlich Erwachsenen, die sich wie kleine Kinder benehmen. "Sie platzen in mein Büro rein und können die Aufforderung ,Jetzt nicht' kaum aushalten, sie können nicht warten", sagt Rudolph. Bedürfnisaufschub nennen das die Pädagogen, die Jungs brauchen lange, das zu lernen.

Rudolph kennt die Vorurteile, in der Haft gehe es den Gewalttätern doch viel zu gut. "Das ist Blödsinn. Der Freiheitsentzug ist eine brutale Bestrafung. Das kann sich keiner vorstellen - sie werden entpersonalisiert, fremdbestimmt, können nicht mehr entscheiden, wann sie an den Kleiderschrank oder ans Telefon dürfen." Auch die weit verbreitete Richterschelte teilt sie nicht. "Es ist schlimm, wenn ein 15-Jähriger in Haft kommt. Wer sagt Ihnen denn, dass der humane Umgang falsch ist? In Hahnöfersand sehen Sie nur die, bei denen es nicht gefruchtet hat."

Jessica Oeser kennt beide Seiten - sie war sieben Jahre Jugendrichterin und zwischendurch in der Vollstreckungsleitung, bevor sie im Sommer Leiterin der JVA Hahnöfersand wurde. Derzeit sind hier knapp 100 Häftlinge untergebracht, zwölf in der Sozialtherapie, einige im offenen Vollzug, 40 in Haft und 35 in Untersuchungshaft. Das sind deutlich weniger als noch vor einigen Jahren. Warum die Zahlen derart sinken, darüber kann auch Jessica Oeser nur spekulieren. Es mag am demografischen Wandel liegen, an rückläufigen Asylbewerberzahlen, auch an einer verbesserten Integration etwa von Aussiedlern. Zugleich aber steigt der Betreuungsbedarf, weil ein Großteil der Inhaftierten psychisch auffällig ist und Korrektive - auf Deutsch "stabile Jugendliche" - in der Gruppe zunehmend fehlen.

Jugendhaft ist weniger Strafe als vielmehr Erziehung. Auch da, wo es schwerfällt. "Es ist mein Wunsch, dem Erziehungsgedanken gerecht zu werden." So sollen die Vollzugsbediensteten noch stärker in pädagogische Projekte einbezogen werden, etwa in Spiel- und Sportprogramme, aber auch in klassische Kurse zur Haushaltsführung, wie man gesund kocht. "Arbeit mit dem Täter ist Opferschutz", sagt Oeser.

Wer aber den Vollzug des 21. Jahrhunderts für eine Wohlfühloase hält, irrt. Vieles hat sich seit den 50er-Jahren geändert, doch Knast bleibt Knast. Lenz erzählt in der "Deutschstunde" von "Tagen, die wie getrocknete Apfelscheiben auf eine Schnur gezogen werden". Heute schmecken sie nicht anders. In Haus 3 beginnt der Tag um 6.45 Uhr mit der "Lebendkontrolle", bei dem die Vollzugsbediensteten die "körperliche Unversehrtheit" der Gefangenen kontrollieren. 45 Minuten später müssen sie zur Ausbildung oder Schule ausrücken. Zwischen 11.30 und 12.30 Uhr gibt es Mittagessen, der Nachmittag bis 16 Uhr gehört noch einmal Ausbildung oder Bildungsangeboten. Die Gefangenen können ihren Hauptschulabschluss nachholen, eine Lehre in Landschafts- und Gartenbau oder als Tischler machen oder Zertifikate erwerben. "Es muss darum gehen, Erfolge zu ermöglichen", sagt Oeser

Eine Pflichtveranstaltung in Haus 3 sind die Therapiesitzungen. Einmal in der Woche treffen sich die Jugendlichen zur Gesprächsrunde in einem kargen Gruppenraum. "Wer mich beleidigt, entscheide immer noch ich", steht auf einem Plakat in der Ecke. Die Wände sind in einem hellen Mint gestrichen, Neonröhren werfen ihr kaltes Licht von der Decke auf die Resopaltische. Einen geschmacklosen Farbtupfer in der Tristesse geben die orangefarbenen Vorhänge. Der Raum atmet die Ästhetik eines DDR-Plattenbaus - vermutlich existierte der Sozialismus noch real, als dieser Raum gestaltet wurde. Aber in Zeiten knapper Kassen sind Schönheitsreparaturen im Jugendknast vermutlich das Letzte, was ein Finanzsenator spendieren dürfte.

Manchmal scheint der Einsatz der Therapeuten aussichtsloser als der Kampf von Don Quichotte: In mehrstündigen Sitzungen soll die Gewaltbereitschaft überwunden werden. Die Insassen müssen sich für einen Umzug ins Haus 3 qualifizieren: durch eine Bewerbung mit Lebenslauf, ein Vorstellungsgespräch, durch einen Verzicht auf Freiheiten. Dafür gibt es hier den besten Kraftraum der JVA. Und Gespräche, viele Gespräche. Ob sie fruchten - wer weiß es. Eine Therapeutin erzählt von einer langen Sitzung - die einzige Zwischenfrage des Delinquenten: "Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?" "Ja, nur zu!" "Können Sie mir ein Shampoo empfehlen?"

Der Tag ist streng getaktet, hat das, was den Jungen stets fehlte: Struktur. Zwischen 16 und 18.30 Uhr bleiben die Zellentüren offen, viele Jungs nutzen dann die Zeit für den Sport. Auf der Insel gibt es eine große Halle mit Kletterwand, Toren, Körben, Netzen.

Eigentlich, sagt Sportlehrer Joachim Müller, ist die Turnhalle ein Platz des Friedens. "Hier spielen fünf Mörder und drei Räuber, und sie benötigen nicht einmal einen Schiedsrichter." Selbst Foul werde kaum gespielt, weil die Stunde der Bewegung heilig ist. Diese Stunde will keiner gefährden. "Hier sehen Sie den homo ludens in seiner reinen Form - die Jungen tragen keine Maske, es gibt keine Verstellung." Für die Gefangenen sei Bewegung extrem wichtig. "Hier ist der Druck geringer, hier gibt es Spielräume - und hier lernen sie, sich an Regeln zu halten." Zudem leide die körperliche Fitness bei den Gefangenen. "Alle nehmen zu, es gibt zu wenig Bewegung und zu viel Chips und Cola."

Müller ist seit 1982 in Hahnöfersand: Er kennt noch die alte Insel, die einstmals ein Modell für den Jugendstrafvollzug in der Welt war. Früher versorgten sich die Jugendlichen im offenen Vollzug selbst, arbeiteten in der eigenen Insellandwirtschaft und lebten in einem teils selbst verwalteten Dorf. Das Dorf ist längst abgeräumt, wo die Landwirtschaft war, wurde die Insel weggebaggert - als ökologische Ausgleichsfläche für die Zuschüttung des Mühlenberger Lochs. Vielleicht haben Wattwürmer eine bessere Lobby als jugendliche Gewalttäter?

Müller geht im kommenden Jahr in Altersteilzeit, die Stelle droht wegzufallen. Was dann aus der Sportstunde wird? Ungewiss.

Auf den ersten Blick mögen viele Bedingungen großzügig scheinen: Alle Inhaftierten haben Einzelzellen, in den Gruppenräumen gibt es einen Fernseher und gelegentlich sogar eine Playstation, im Fitnessraum können die Gefangenen Gewichte stemmen oder Tischtennis spielen. Die Einzelzellen sind nicht zuletzt auch eine Konsequenz aus dem Drama in der Justizvollzugsanstalt Siegburg, als Gefangene einen Mithäftling zu Tode folterten. Die Freizeitangebote sind der Versuch, den Jugendlichen Freiräume zu geben, das Miteinander zu lernen.

Doch die Gitter bleiben. Und ein knallhartes Reglementieren des Lebens. Zweimal im Monat kommt die Revision in die Zellen - dann werden die wenigen Quadratmeter komplett auf den Kopf gestellt, und wehe, die Gefangenen haben sich etwas zuschulden kommen lassen. Da reichen Kleinigkeiten; minimale Regelverstöße wie etwa eine selbst gebrannte CD ziehen Strafen nach sich. Schließlich sind Raubkopien in Deutschland verboten. Wie schön ist das Leben im Jugendzimmer.

Ein Höhepunkt im Haftleben ist für viele Jungen das Familienfest. Zweimal im Jahr dürfen die Inhaftierten bis zu drei Angehörige einladen. Dann sitzt man an einem Sonnabend dreieinhalb Stunden bei Kaffee und Kuchen im Gruppenraum zusammen. Kommen dürfen nur "geprüfte Besucher", die den Vollzugsbediensteten von vorherigen Stippvisiten in Hahnöfersand bekannt sind. Für sie ist das Angehörigenfest Mehrarbeit: Sie sind dann mit Rauschgifthunden unterwegs und versuchen zu verhindern, dass die Besucher den Inhaftierten Eingeschmuggeltes zustecken: Marihuana oder einen USB-Stick. "Die Kontrollen sind nötig, damit die Gefangenen nicht schwach werden", sagt Behandlungsleiter Peter Vetter.

Und trotzdem geht es darum, ein Stück bürgerliche Normalität zu schaffen. Die Psychologen und Vollzugsbediensteten wollen vor dem so wichtigen Besuch mit den Inhaftierten backen. Bislang hat sich nur ein Häftling freiwillig zum Backen gemeldet, er möchte einen Maulwurfskuchen, eine spezielle Mischung aus Tortenboden, Bananen und Stracciatella-Creme, backen. Vetter ist mit der Beteiligung nicht einverstanden: "Kuchen backen ist ein bürgerliches Ritual, das zu erlernen ist", betont er. "Das hat mit Normengebung zu tun." Wenn es gut läuft, werden vielleicht noch einige Inhaftierte eine Backmischung hinbekommen. Wahrscheinlicher ist, dass am Ende Kuchen auf Finkenwerder gekauft werden muss. Kuchen backen - das haben die Jungs nicht gelernt, das bleibt ihnen fremd wie ein bürgerliches Leben in Blankenese.

Die Aufregung bei den Jungen ist dennoch groß. Die Hafträume werden fünfmal geputzt, die Körper zehnmal geduscht, sogar die Hemden gebügelt. Wenn dann am großen Tag ein Knopf fehlt, bricht eine Welt zusammen. Für andere ist sie längst zusammengebrochen. Von den zwölf Inhaftierten werden drei keinen Besuch bekommen. Einer hat nur einen Wunsch für den großen Tag - er will sich den ganzen Sonnabend in seine Zelle schließen lassen.

Dabei haben viele gerade zu ihren Müttern ein ganz besonderes Verhältnis. Der Knast bringt die Kinder einer vaterlosen Gesellschaft zusammen, Jungs aus zerbrochenen Familien oder Elternhäusern, in denen die Männer oft für dreierlei stehen: Trinken, Schlagen, Scheitern. Mit der Verachtung für die Väter geht die Stilisierung der Mutter einher. Sie ist eine Heilige, die nicht beleidigt werden darf. Keine Kritik ist so ehrverletzend wie der Spruch "Deine Mudder." Gut behandeln muss man sie indes nicht: Sie kann ruhig eine Extraschicht putzen gehen: "Ich brauche doch den neuen Fernseher", heißt es dann. Was sonst noch zählt: das extravagante Duschgel, das tolle Shampoo, die edle Körperpflege. Und Muskeln, ein gestählter Körper, der etwas Selbstvertrauen schenkt. Warum sollte das Posen hinter Gittern enden?

Der Häftling Marvin weiß genau, was er tun wird - sollte er im Februar 2014 in Freiheit kommen. Erst kürzlich hat er "Zuschlag bekommen, weil hier was war mit einem Beamten". Für den Richter war das Körperverletzung. Im Gefängnis wird radikal geahndet.

Die Tage bis Februar 2014 zählt er nicht. Aber für den großen Tag wird er Klamotten bestellen, dass er "schick aussieht. Dann werde ich nach Finkenwerder fahren, zum Friseur und essen gehen", sagt Marvin. "Und dann kaufe ich einen Blumenstrauß für Mama."