Hamburg. Die Fenster zeigen Geschichten, die Bibel erzählt in Metaphern. Lesen Sie hier die neue Ausgabe des Magazins Himmel & Elbe.

Die Kunst lebt in den Kirchen – mit einem besonderen, stillen Zauber in den Fenstern. Das 20. Jahrhundert hat eine nicht mehr zu überschauende Fülle und Vielfalt an herrlichsten Glasfenstern hervorgebracht, und diese wunderbare Geschichte ist noch lange nicht an ihr Ende gekommen. Fenster sind eben mehr als bloße Lücken in Kirchenmauern, durch die das benötigte Tageslicht ins Innere gelangen kann.

Sie sind ebenso sehr Licht- wie Sinnquellen. Nicht zuletzt durch die Farben, Formen, Bilder und Symbole der Glasfenster unterscheiden sich Kirchen von banalen Versammlungssälen, werden sie zu sakralen Lichträumen, meditativen Sphären. Dabei setzen sie den christlichen Glauben ins Bild: Sie stellen die wichtigsten Gestalten der Glaubensgeschichte, zentrale Erzählungen und Symbole visuell vor und ergänzen so die Predigt, die Gebete und die geistliche Musik.

Himmel & Elbe: Kirchenfenster sind nicht nur Lichtquellen

Begonnen hat die Geschichte der Fensterkunst im hohen Mittelalter. Denn erst durch den neuen Baustil der Gotik entstanden die Flächen, in denen Licht und Farbe sich entfalten konnten. Mithilfe innovativer Techniken musste in der Gotik die Statik der Kirchen nicht mehr durch dicke, geschlossene Mauern gewährleistet werden. An deren Stelle traten nun kunstvolle Gerippe aus Pfeilern und Streben, die den Bau zusammenhielten und den Druck ableiteten.

Das schuf Raum für Fenster. Jetzt konnten die Kathedralen hell und farbig werden. Man bedenke: Damals war Glas keineswegs ein übliches Baumaterial. Die Fenster der meisten Wohnhäuser waren einfache Lüftungsspalten mit Holzläden davor. Im Vergleich dazu müssen die neuen Kathedralen wie Zauberbauten aus Licht gewirkt haben. Die größte Fensterfläche wurde in Chartres geschaffen: 2600 Quadratmeter!

Doch nicht allein die Menge an Licht erregte Aufsehen. Licht und Farben wurden präzise als Gestaltungsmittel eingesetzt. Die Kirchbauten wurden nach oben und vorne hin heller, denn dorthin sollten die Blicke gehen. Das hatte praktische Gründe – die Messfeier sollte gut zu sehen sein. Es gab aber auch einen symbolischen Tiefensinn: Denn in der Gotik entstand auch eine neue Theologie des Lichts und des Sehens: Schauen und Staunen wurden zu Glaubensakten eigener Art. Viele der neuen Fenster stellten Geschichten der Bibel und der Heiligen dar.

Rundes Kirchenfenster von Johannes Schreiter im St. Marien-Dom.
Rundes Kirchenfenster von Johannes Schreiter im St. Marien-Dom. © THORSTEN AHLF / FUNKE FOTO SERVICES | Thorsten Ahlf

Deshalb nennt man sie „die Bibeln der Armen“. Wer nicht lesen konnte – das waren damals ja die meisten –, mochte die Inhalte des Glaubens hier kennenlernen. Es entwickelte sich ein Bilderbuch mit vielen Kapiteln: mit der Weihnachtsgeschichte, unterschiedlichen Szenen aus dem Leben Jesu, seiner Passion, katholischen Heiligenerzählungen und protestantischen Heldengeschichten über die Reformatoren.

Rundfenster, die an Glückräder erinnern

Doch es wäre zu pädagogisch, dies für den eigentlichen Sinn der Fenster zu nehmen. Der liegt in der Schönheit des farbigen Glases selbst. Dies zeigen am deutlichen die „Rosen“, riesige Rundfenster, die an unterschiedlichste Symbole denken lassen: das Glücksrad, den Kreis, die Rose als Sinnbild der Liebe und der Gottesmutter, Christus als Licht der Welt.

Die Fensterrosen sind nicht auf eine inhaltliche Botschaft festgelegt, sondern eröffnen in ihrer flamboyanten Virtuosität den Weg zu einer freien Spiritualität und reinen Kunst. Sie lassen einen aber auch an die Offenbarung des Johannes, das letzte Buch der Bibel, denken: Es kommt der Tag, da wird Gott alle Tränen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein; er wird sein himmlisches Jerusalem aufrichten, gebaut aus lauter Edelsteinen – Jaspis, Saphir, Smaragd, Topas, Hyazinth und Amethyst –, eine Stadt aus Licht, denn Gott ist Licht, ist Farbe, ist schön, Gott ist da.

Viele Glaskunstwerke wurden im Krieg zerstört

An diese Hoch-Zeit der kirchlichen Glaskunst konnte erst die Moderne wieder anschließen. Das hatte gute und schlechte Gründe. Zum einen waren nun auch in der Kirche bisher ungeahnte künstlerische Freiheiten möglich, die neue spirituelle Räume eröffneten. Zum anderen wurden unfassbar viele kostbare Glaskunstwerke der Tradition in zwei Weltkriegen – und später durch manche Rücksichtslosigkeit – zerstört. Schließlich aber konnten in Westdeutschland durch den wachsenden Wohlstand viele Sakralbauten neu gebaut oder mit neuen Fenstern ausgestattet werden.

Jesus trägt schwer an seinem Kreuz: Kirchenfenster von Siegfried Assmann über dem Altar in der Kirche am Markt in Blankenese
Jesus trägt schwer an seinem Kreuz: Kirchenfenster von Siegfried Assmann über dem Altar in der Kirche am Markt in Blankenese © THORSTEN AHLF / FUNKE FOTO SERVICES | Thorsten Ahlf

Dabei sind weltberühmte Werke entstanden. Man denke an die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche von Egon Eiermann mit ihren Wänden aus mystischem Char­tres-Blau. Oder an die überwältigenden Bibelerzählungen von Marc Chagall im Zürcher Fraumünster. In jüngster Zeit hat Gerhard Richter, einer der berühmtesten lebenden Künstler, sensationelle Kirchenfenster geschaffen: zunächst für den Kölner Dom und dann für die Benediktinerabtei St. Mauritius in Tholey, bei Saarbrücken.

Manchmal ist der christliche Bezug nicht sofort erkennbar

Nicht immer wurden solche Schöpfungen zeitgenössischer Künstler beglückt und dankbar aufgenommen. Es gab intensive Debatten sowohl über ungewöhnliche figurative Darstellungen, die bisherigen Sehgewohnheiten widersprachen, als auch über abstrakte Kreationen, bei denen ein Bezug zur christlichen Botschaft nicht unmittelbar zu erkennen war. In der hannoverschen Marktkirche hat die Ankündigung, Gerhard Schröder würde ein Fenster von Markus Lüpertz stiften, sogar für erhebliche Streitigkeiten gesorgt, die bis vor Gericht gingen.

Auch wenn viele Hamburgerinnen und Hamburger es nicht wissen, birgt ihre Heimatstadt einen Schatz an großer Kirchenfensterkunst – verteilt auf viele Kirchen unterschiedlicher Konfessionen. Es wäre eigentlich ein guter Plan für den Frühling, eine Radtour zu den schönsten Glasfenstern zu unternehmen. Man könnte beim Mariendom beginnen, wo einer der bedeutendsten Glaskünstler der Nachkriegszeit, Johannes Schreiter, einen Zyklus von zehn Rundbogenfenstern geschaffen hat. Natürlich haben die evangelischen Hauptkirchen einiges zu bieten, zum Beispiel die Chorfenster von Hermann Oetken und Claus Wallner in St. Petri an der Mönckebergstraße.

Bedeutendstes Glaskunstwerk ist in Hauptkirche St. Nikolai

Man sollte aber nicht in der Innenstadt bleiben, sondern auch in die Stadtteile fahren. Denn nicht wenige Quartierskirchen sind wunderbar ausgestattet, so Matthäus in Winterhude durch Charles Crodel (der auch Fenster für die Hauptkirche St. Jakobi und für die Marienkirche in Fuhlsbüttel geschaffen hat). Wer etwas mehr Ausdauer mitbringt oder zwischendurch die S-Bahn nimmt, kann in der Reinbeker Maria-Magdalenen-Kirche die glühend roten und tiefblauen Fenster von Klaus Arnold bewundern, die einen reizvollen Kontrast zum neugotischen Raum bilden.

Ein gewaltiges, 22 Meter hohes Kirchenfenster gibt es von Elisabeth Coester in der Hauptkirche St. Nikolai am Klosterstern.
Ein gewaltiges, 22 Meter hohes Kirchenfenster gibt es von Elisabeth Coester in der Hauptkirche St. Nikolai am Klosterstern. © THORSTEN AHLF / FUNKE FOTO SERVICES | Thorsten Ahlf

Man tut all den schönen evangelischen oder katholischen Kirchen allerdings kein Unrecht, wenn man erklärt, dass das bedeutendste Glaskunstwerk in der Hauptkirche St. Nikolai am Klosterstern zu finden ist. Geschaffen hat es Elisabeth Coester (1900–1941). Sie gehört zu den großen Künstlerinnen der klassischen Moderne.

Wunderschöne Rose, himmlische Gestalten, eine Pracht von 22 Metern Höhe

Berühmt war sie durch die Glasfensterwände von 800 Quadratmetern, die sie 1928 für die avantgardistische „Stahlkirche“ in Essen geschaffen hatte. Dieses Meisterwerk wurde wie fast ihr gesamtes Werk im Zweiten Weltkrieg zerstört. Erhalten hat sich jedoch ein Fenster von immerhin acht Metern Breite und 22 Metern Höhe.

Es war für die alte Nikolaikirche am Hopfenmarkt bestimmt, dort wegen des Krieges aber nicht eingebaut worden. Als man daranging, St. Nikolai am Klosterstern neu zu bauen, reservierte man den Taufraum vor dem Kirchsaal für dieses riesige Fenster. Virtuos verbindet es Traditionelles und Modernes. Über allem strahlt eine prächtige Rose. Darunter finden sich Gestalten und Symbole aus der Offenbarung des Johannes: vor allem Anklänge an das himmlische Jerusalem. Man merkt ihm nicht an, dass es während der NS-Diktatur geschaffen wurde. Denn es stellt die Schwachen und Trauernden in den Mittelpunkt.

Pastor Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Ev. Kirche in Deutschland.