Hamburg. Hamburger Straßen sind umkämpfte Orte. Hauptprobleme, was Notfallseelsorger und Sozialarbeiter erleben: im neuen Himmel & Elbe.

Geht doch mal auf die Straße, spielt ein bisschen.“ Wer diesen Ratschlag an der Kieler Straße in Stellingen berücksichtigt, muss schnell sein. Durchschnittlich alle 1,25 Sekunden fährt ein Auto über eine der sechs Spuren. Auch abseits von Hamburgs meistbefahrener Straße käme heutzutage kaum jemand auf die Idee, Kinder zum Spielen auf die Straße zu schicken. Warum auch? Auf der Straße gilt mitunter nur das Recht des Stärkeren, und Kinder gehören zusammen mit Igeln und Hasen zu den schwächsten Verkehrsteilnehmern. Straßen sind kein Ort mehr, an dem man sich gerne aufhält.

Das Wort Straße ist im Jahr 2021 unweigerlich mit dem Automobil verbunden und bringt Assoziationen von Lärm, Stau, Schmutz und Stress. Doch jahrhundertelang war an das Auto nicht zu denken, Straßen waren ein Ort für Fußgänger und Kutschen. Erst im 19. Jahrhundert änderte sich das, allerdings noch nicht mit der Erfindung des Automobils, sondern mit einem Verkehrsmittel, das seitdem schon wieder aus Hamburgs Straßen verschwunden ist: der Straßenbahn. Sie war das passende Verkehrsmittel zur Zeit der Industrialisierung: oberirdisch, günstig und in der Lage, Menschenmassen zu transportieren. Noch in den 1920er-Jahren waren S-, U- und Straßenbahn mit großem Abstand die wichtigsten Transportmittel und Autos Exoten.

Was im Weg war, wurde abgerissen

Im Krieg waren Hamburgs Straßen Schneisen in einer völlig zerstörten Stadt. In den 1950er-Jahren setzte das Wirtschaftswunder in ganz Deutschland ein und veränderte nachhaltig das Straßenbild : Einige Planungen, unter anderem die Ost-West-Straße (heute Willy-Brandt-Straße und Ludwig-Erhard-Straße), konnten ohne großen Widerstand realisiert werden. Jedes bisschen gebaute Straße war ein willkommener Zugewinn im Wiederaufbau der Stadt.

Zu dieser Zeit veränderte sich auch das Transportwesen ganz entscheidend: Autos waren von einem exklusiven Fortbewegungsmittel zu einem massentauglichen Produkt geworden, das mehr als alles andere für die individuelle Freiheit stand. Gemäß dem Motto „höher, schneller, weiter“ wurden Straßen in allen Stadtteilen möglichst autogerecht ausgelegt, und es wurde entfernt, was dabei im Weg war. Prominentestes Opfer war die Straßenbahn, deren Einstellung 1958 beschlossen und bis 1978 etappenweise vollzogen wurde.

Monströse Anmutung der Verkehrsbauwerke

Ähnlich erging es Anwohnern, deren Häuser im Verlauf einer geplanten Straße lagen: Was im Weg war, wurde abgerissen, wie beispielsweise für den heutigen Ring 2 in Eimsbüttel zwischen Alsenplatz und Fruchtallee. Absurd muten heute Planungen eines Stadtautobahnnetzes mitsamt Alstertunnel an, und doch wurden Teile dieses Plans, wie die heutige Schneise der A 7, umgesetzt. Praktisch alle Aspekte der Planung wurden auf die Bedürfnisse des Autoverkehrs gelenkt, sodass die Straßen vom Begegnungsort zum reinen Transportweg wurden. Die Architektur der 1950er- bis 1970er-Jahre wird als Brutalismus bezeichnet, ein Begriff, der auch die monströse Anmutung der Verkehrsbauwerke dieser Zeit passend beschreibt.

Erst in den letzten zehn Jahren ist eine neue Entwicklung zu beobachten: Vorsichtige Experimente einer autofreien Stadt werden umgesetzt, zum Beispiel durch die aktuelle Verkehrsberuhigung des Jungfernstiegs oder das Projekt „Ottensen macht Platz“. Sie sollen das Gegenstück zur Ellbogenmentalität sein und den Monstern der Straßenbauwerke nach und nach ihre Menschlichkeit zurückgeben.

"Ottensen macht Platz" hieß das umstrittene Projekt zur Verkehrsberuhigung des Stadtteils © Roland Magunia / Funke Foto Services | Roland Magunia

Beim Projekt „Ottensen macht Platz“ – von September 2019 bis Februar 2020 – zeigte sich allerdings auch, wie weit und unerforscht der Weg zu einem flächendeckenden Konzept noch ist. Geschäftsinhaber beschwerten sich über ausbleibende Kunden, Anwohner über Behinderungen auf dem Weg zu ihren Wohnungen.

Widerstand gegen Verkehrsberuhigung in Ottensen

Das Projekt wurde vorzeitig beendet und der Widerstand gegen die Verkehrsberuhigung verdeutlicht, dass das Auto aus Städten nicht mehr wegzudenken ist. Dieser Erkenntnis nimmt sich das Nachfolgeprojekt „freiRaum Ottensen“ an, das mit mehr Kommunikation und Information versucht, ein autoarmes, aber kein autofreies Ottensen gemeinschaftlich zu entwickeln.

Weitgehend autofrei ist seit vergangenem Oktober der Jungfernstieg, der das erste Aushängeschild zum Programm „autoarme Innenstadt“ des rot-grünen Senats werden soll. Größter Kritikpunkt ist hier die erschwerte Erreichbarkeit von Parkhäusern. Erfahrungen aus Ottensen und am Jungfernstieg zeigen, dass für jeden Straßenzug ein individuelles, an Anwohner und Geschäftsinhaber angepasstes Konzept erstellt werden muss. Das macht es kompliziert und langwierig.

Gutes Vorbild ist die Stadt Barcelona

Einige Schritte weiter auf dem Weg zur autoarmen Stadt ist Barcelona: Hier wurden in den letzten zehn Jahren sogenannte Superblocks geschaffen, bei denen kleinere Straßen abseits eines Grundnetzes verkehrsberuhigt wurden. In diesen Straßen werden Fußgänger und öffentliches Leben priorisiert – zum Beispiel durch Spielplätze und Gastronomie auf der ehemaligen Straße. Autos fahren, wenn überhaupt, nur mit zehn km/h. Außerhalb des jeweiligen Blocks verlaufen die Hauptverkehrsachsen. Nach wenigen Jahren zeigt sich, dass das Leben auf die Straßen zurückkehrt, ohne dass der innerstädtische Verkehr zusammengebrochen ist. Straßen sind wieder Begegnungsorte geworden, haben als gemeinschaftlich genutzter Ort das Zusammenleben der Anwohner verändert.

Bei allen Hamburger Planungen tut sich ein weiteres Problem auf: Einfach nur Autos von den Straßen zu entfernen reicht nicht aus. Es bedarf Lösungen, um die Mobilität der Menschen auch ohne Autoverkehr sicherzustellen. Der Senator für Verkehr und Mobilitätswende, Anjes Tjarks (Grüne), hat auf dem Weg zurück in die Zukunft ein ambitioniertes Ziel gesetzt: Der Anteil des Pkw an den insgesamt zurückgelegten innerstädtischen Kilometern soll von heute 36 Prozent auf 20 Prozent im Jahr 2035 reduziert werden und auf den sogenannten Umweltverbund (ÖPNV, Fahrräder und Fußgänger) verlagert werden.

Hamburger lieben ihre mobile Freiheit

Kernstück der Verlagerung vom Auto weg soll das Netz der Velorouten sein, das 268 km gut ausgebaute Fahrradspuren in ganz Hamburg vorsieht. Auch die neue U-Bahn-Linie 5, mit deren Bau noch dieses Jahr begonnen werden soll, die Umstellung der Regionalbahn nach Bad Oldesloe zur S 4 und die Aufwertung der AKN-Strecke zur S 21 sollen die Lage verbessern. Doch davon muss Tjarks die Bürger erst mal überzeugen: Denn 2020/21 wurde, trotz Pandemie und Fahrradboom, ein Anstieg der in der Hansestadt angemeldeten Autos verzeichnet. Derzeit gibt es 805.780 Pkw auf Hamburgs Straßen, das sind mehr als 430 Autos pro 1000 Einwohner – Hamburger lieben eben ihre individuelle mobile Freiheit.

Der Autor ist Student der Logistik und Mobilität an der TU Hamburg.