In der Antike waren Geduldige Helden, in der Bibel besonders fromm. Die vielen Facetten des Wartens: im aktuellen Himmel & Elbe.

Die Journalistin Friederike Gräff hat sich in ihrem Buch „Warten. Erkundungen eines ungeliebten Zustands“ mit verschiedenen Wartezeiten befasst und wie sich diese auf Menschen auswirken. Dabei kamen neben den oft mit Ärger verbundenen Alltagssituationen auch viele positive Aspekte zum Vorschein. Dieses Interview und viele Geschichten rund um das Warten stehen im aktuellen Magazin „Himmel & Elbe“.

Hamburger Abendblatt: Der Zustand des Wartens hat ganz unterschiedliche Facetten, was ist Ihnen bei Ihrer Recherche im Umgang mit typischen Wartesituationen aufgefallen?

Friederike Gräff Die Klassiker im Alltag sind Warteschlangen an der Kasse oder Warteschleifen am Telefon. Diese Situationen regen viele Leute auf. Auch wenn der Ärger oft in keinem Verhältnis zu der Zeit steht, die wir dort verbringen, haben wir das Gefühl, dass uns die drei Minuten unendlich blockieren. Das ist ein interessantes Indiz dafür, wie getrieben wir sind. Wir sind darauf getrimmt, unsere Zeit selbstbestimmt und möglichst effizient zu nutzen. Aus dieser Sicht ist Warten immer eine Panne, die irgendjemandem anzulasten ist, sei es den Leuten vor uns in der Schlange oder unserer schlechten Planung. Die Vorstellung, dass Warten in seiner ganzen Banalität einfach passiert, ist uns völlig fremd.

Das heißt, wir können keine Geduld mehr aufbringen, weil wir voll durchgetaktet sind?

Das ist fast kurios. Denn wenn man in der Geschichte zurückschaut, merkt man, dass wir im Vergleich dazu heute relativ wenig warten müssen. Früher gab es sicher viel mehr Leerlaufphasen im Alltag. Im digitalen Zeitalter geht eben vieles schneller, wir kommen mit nur einem Klick an Informationen. Auch die Wirtschaft prägt diese Schnelligkeit. Wenn wir etwas haben wollen, sollen wir nicht lange darauf sparen müssen, wir können es gleich kaufen und in Raten abbezahlen. Das kann sich natürlich nicht jeder leisten. Auf etwas warten zu müssen, ist dann manchmal auch ein Zeichen für einen niedrigeren sozialen Status. Bestes Beispiel ist der Komfortschalter bei der Bahn oder einer Fluggesellschaft für die erste Klasse. Weil dort weniger Leute Zutritt haben, geht es zügiger voran. Das löst bei den übrigen Wartenden in der Schlange nicht selten das negative Gefühl aus: „Ich bin jemand, den man warten lassen kann.“

Himmel & Elbe – das neue Magazin

Gibt es auch Dimensionen des Wartens, die an die Substanz gehen?

Wenn es um das notwendige Erdulden eines Zustands geht, dem man ausgeliefert ist, dann hat das eine ganz andere Qualität. Das wurde deutlich, als ich mit einem Geflüchteten über das jahrelange Warten auf die Bewilligung seines Asylantrags sprach. Er sagte, das Warten habe ihn krank gemacht. Dazu passt eine Studie mit Altenheimbewohnern, die in zwei Gruppen geteilt wurden. Die Teilnehmer der einen Gruppe wussten, wann sie Besuch bekommen würden, die anderen wussten es nicht. Es stellte sich heraus, dass es einen unglaublichen Unterschied für das Erdulden des Wartens macht, ob man quasi ins Leere wartet oder ob man das Gefühl hat, man weiß, wohin es gehen kann. Bei dem Geflüchteten hatte ich das Gefühl, seine Hoffnung sei schlichtweg erloschen.

Zuversicht ist also ein Faktor, der das Warten erleichtert?

Das zeigt sich in Situationen, in denen es um Existenzielles geht. Etwa bei Menschen, die auf der Warteliste für eine Organtransplantation stehen. Oder Menschen, die ein Kind adoptieren möchten. Hier ist das Warten von großer Hoffnung geprägt. Die Gesprächspartnerin, die auf eine neue Niere wartete, erzählte mir, sie habe Geduld gelernt, indem sie immer nur von Tag zu Tag dachte. Es war überraschend positiv, dass Menschen, die nicht nur für eine Woche, sondern für eine längere Zeit ihres Lebens Ausdauer aufbringen müssen, so eine hoffnungsvolle Gelassenheit entwickeln können.

Friederike Gräff. ist Journalistin bei der „taz“ und hat ein Buch über das Warten geschrieben.
Friederike Gräff. ist Journalistin bei der „taz“ und hat ein Buch über das Warten geschrieben. © Andreas Laible / FUNKE Foto Services | Andreas Laible

Welche Wartegeschichte hat Sie am meisten beeindruckt?

Das war die eines Mannes in Sicherungsverwahrung. Er wusste nicht, wann er jemals wieder in Freiheit leben wird. Er hatte sich sehr ehrlich damit auseinandergesetzt, wie ihn diese Situation prägt. Zum einen wollte er sich auf nichts mehr einlassen, weil er befürchtete, dass seine Hoffnung auf Freiheit möglicherweise enttäuscht werden würde. Andererseits hatte er sehr an seiner Persönlichkeit gearbeitet, sodass er eine neue Lockerungsstufe des Vollzugs erreichte. Die veranlasste ihn, konkret darüber nachzudenken, was er als Erstes bei einem Freigang tun würde. Er wollte ein Tier streicheln.

Wo sind Ihnen positive Aspekte begegnet?

Das ist natürlich individuell verschieden, aber für viele Frauen ist es eine Schwangerschaft. Hier wächst im schönsten Sinne etwas heran. Es geht nicht darum, etwas aktiv zu optimieren, sondern es einfach passieren zu lassen. Erstaunlich positiv war auch die Wartehaltung einer Autorin auf die nächste Romanidee. Statt in Panik über ausbleibende Ideen zu verfallen oder etwas erzwingen zu wollen, lernte sie allmählich, sich für neue Ideen bereitzuhalten. Diese gelassene Form der Erwartung eignet sich auch für andere Situationen. Etwa dafür, ob ich eine neue Liebe finde oder eine neue Arbeit, die mich erfüllt, also für Dinge, die man nicht ganz in der Hand hat. Wenn man sich bewusst für das Warten ins Ungewisse entschieden hat, kann das auch etwas sehr Mutiges, Unabhängiges und Positives haben.

Welche Tipps haben Sie für die nächste Warteschlange?

Vor Corona hätte ich gesagt, dass man sie als einen Moment zum Innezuhalten nutzen könnte. Aber seit dem Lockdown hat das Warten aus meiner Sicht eine andere Färbung angenommen. Mein Eindruck ist, dass die Stimmung in den Schlangen erstaunlich gut ist. Die Menschen, die nur noch im Homeoffice sind, scheinen jetzt für jede Form von direktem Kontakt dankbar zu sein. Vielleicht bleibt ja etwas von dieser guten Stimmung auch nach der Corona-Zeit übrig.