Hobby, Existenzsicherung oder Gottesdienst: Die vielen Facetten des Sammelns und Hortens im neuen Magazin Himmel & Elbe.

Auf Reisen freue ich mich stets auf den Besuch im Plattenladen. Denn Städte wie Münster, Köln oder Stuttgart eignen sich bestens, um meine Single-Sammlung zu erweitern. Warum es mir im Unterschied zur Langspielplatte gerade diese kleineren Vinyl-Scheiben angetan haben, ist mir selbst ein Rätsel. Meine Sammlung ist über Jahre gewachsen. Sie reicht von A wie „ABBA“ bis Y wie „Neil Young“ und misst Album an Album bald drei Meter. Die Suche nach einer begehrten Single spornt mich an. Auch wenn eine Schallplattensammlung anachronistisch scheint, weil Streaming-Dienste im Internet heute jeden Song zum Abruf anbieten.

Geschichtlich betrachtet ist Sammeln ein uraltes Phänomen. Wir sprechen vom Menschen als „Jäger und Sammler“. Es gibt kulturgeschichtliche und psychologische Theorien des Sammelns. Der Kieler Philosoph Manfred Sommer beschreibt das Sammeln als Aktivität, Dinge von unterschiedlicher Herkunft zusammenzuführen. Ob man sich für Briefmarken begeistert, für Schmetterlinge oder für Kunst: Stets tragen Sammlerinnen vieles, das verstreut war, an einem Ort zusammen. Nach diesem Muster funktionierte bereits die steinzeitliche Sammelwirtschaft, als Wildbeuter die auf Streif- und Jagdzügen erlegten Tiere, Wurzeln und Beeren ins Lager brachten. Als mit der neolithischen Revolution aus umherziehenden Jägern und Sammlerinnen sesshafte Bauern wurden, bewährte sich die Praxis des Sammelns bei der Vorratshaltung.

Himmel & Elbe – das neue Magazin

Es gibt eine ökonomische und ästhetische Variante des Bewahrens

Doch nicht alles, was man sammelt, ist darum auch eine „Sammlung“! Zwei Formen der Ansammlung sind zu unterscheiden: Wir tragen Dinge zusammen, um diese alsbald zu verbrauchen. Sommer nennt dies die „ökonomische Variante“ des Sammelns: Etwas wird aufbewahrt, zum Beispiel Nahrung im Kühlschrank, um es zu verbrauchen. Hingegen geht es bei der „ästhetischen Variante“ darum, die Sammlung zu bewahren. Wer ästhetisch sammelt, will die sehenswerten Dinge stets präsent haben. Anders als Postkarten, die ich im Karton aufbewahre, um sie gelegentlich zu verschreiben, ist die echte Sammlung – ob in den eigenen vier Wänden oder im Museum – auf Dauer angelegt.

Wer ästhetisch sammelt, kennt die Freude am Suchen und Finden. Mit Glück und wachen Augen lassen sich beispielsweise an den Stränden der Ostsee Fossilien finden. Anfangs gleicht bei der Suche ein Stein dem anderen, doch mit der Zeit entwickelt das Auge einen Sinn für die kegelartige Form versteinerter Donnerkeile, Muscheln oder gar Seeigel. Umso größer ist dann die Freude über das Sammlerglück! Wer eine ständige Sammlung unterhält, begnügt sich allerdings nicht mit Zufallsfunden. Nicht selten erwerben Sammler und Sammlerinnen deshalb auf ihrem Gebiet ein außergewöhnliches Wissen, um dem Ideal der vollständigen Sammlung nahezukommen. Dieses Wissen wird auch im Gespräch unter Gleichgesinnten vertieft. Sammeln verbindet!

Hamburger Kunstverein wurde von Sammlern gegründet

Vom Sammeln Einzelner leben und profitieren auch Vereine und Museen. Der Hamburger Kunstverein beispielsweise hat seine Wurzeln im Austausch von Kunstsammlern. Seit dem Winter 1817 trafen sich einige kunstliebende Mitglieder der Patriotischen Gesellschaft wöchentlich zu Konversationsabenden. Sie tauschten sich aus über ihre privaten Sammlungen von Zeichnungen und Drucken. Als der Kreis der Teilnehmenden wuchs, verlegte man das Treffen in die Räume eines Hamburger Kunsthändlers und begründete 1822 – „zwecks Mitteilung über bildende Kunst“, wie es in der ersten Vereinssatzung heißt – den „Hamburgischen Kunst-Verein“.

Wird das Sammeln professionalisiert, tritt die Sammlung in den Vordergrund und löst sich von der Person des Sammlers weitgehend ab. Damit öffnen sich nun aber auch neue Räume für die Öffentlichkeit. Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begründete man Museen wie das 1779 eröffnete Museum Fridericianum des Landgrafen Friedrich II. in Kassel. So schrieb der Wunsch, eine Sammlung bleibend zu präsentieren, wie man aus der bunten Museumslandschaft unserer Tage ersehen kann, eine Erfolgsgeschichte.

Museen sind das materiale Gedächtnis einer Gesellschaft

Museen sind Orte, an denen Wissen anschaulich vermittelt wird. Sie sind das „materiale Gedächtnis“ einer Gesellschaft und tragen zur kulturellen Identitätsbildung bei. Jede Sammlung braucht ein Konzept, um die jeweilige Strategie des Sammelns zu bestimmen. Dieses Konzept ist stets historisch bedingt und gibt somit auch Auskunft über die gesellschaftlichen Werte einer Epoche. Diese Werte aber sind nicht für alle Zeit zwingend. So diskutiert die Provenienz-Forschung aktuell die Herkunft der Artefakte, menschlichen Gebeine und Kunstwerke in ethnologischen Museen. Was einst aus kolonialen Beständen archiviert wurde, gilt heute vielfach als Beutekunst. Neben der Pflicht, Rechenschaft zu geben über die Herkunft und den Verbleib der Objekte, geht es auch um eine sachgerechte Konservierung und Gestaltung der Sammlung.

Das Nachdenken über das Konzept einer Sammlung führt mich zurück zum Akt des Sammelns. Aus einer Reihe anfangs planloser Käufe oder Geschenke kann – wie bei einer Schallplattensammlung – eine stimmige Abfolge werden. Nur rückblickend kann der zufällige Erwerb eines ersten Objekts den Anfang einer Sammlung markieren. Sammeln erzeugt Lust, bisweilen auch Frust: wenn etwa der Perfektionismus die Oberhand gewinnt. Der Wunsch, Dinge zusammenzutragen und zu ordnen, kann auch zwanghaft getrieben sein. Und nicht zuletzt besteht stets die Gefahr, dass Angehörige nicht einfach glücklich sind, eine Sammlung zu erben.

Das Horten von Dingen als Ersatzhandlung

Warum sammelt man überhaupt? Kritische Stimmen behaupten, beim Sammeln gehe es gar nicht darum, etwas zu sammeln. Es sei nur der äußerliche Ausdruck von etwas Dahinterliegendem, eine Ersatzhandlung für etwas, das der sammelnden Person verwehrt sei. Das mag hier und da der Fall sein. Doch letztlich können nur die Sammlerin und der Sammler selbst Auskunft geben. Mich dünkt, dass ich mich mittels der Musik und der Singles mit der Vergänglichkeit auseinandersetze. Mit den meisten Songs verbinde ich biografische Erinnerungen und Erlebnisse, die ich nicht festhalten kann. Aber nicht nur das: Die Sammlung ist auch ein Weg, Titel mit anderen anzuhören und (nicht nur, aber auch beim Tanzen) gemeinsam in Bewegung zu sein.

Der Autor ist Hauptpastor und Probst der Hauptkirche St. Nikolai