Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort, heißt es. Die Waage weist unbarmherzig auf die Schlemmerei am Wochenende. Das letzte Bier war schlecht. Und das Knöllchen wegen Falschparkens – wäre ich doch mit dem Fahrrad gefahren, wie es ich mir vorgenommen habe! Der innere Schweinehund ist schuld. Was aber ist Sünde, wenn sie nicht als kleine Sünde daherkommt? Zunächst ein dunkles und sperriges Wort, mit dem man am liebsten nichts zu tun hat. Die Kirchen haben wohl das ihre dazugetan. Beichtstühle wirken für viele bedrückend, ebenso wie Sündenbekenntnisse in Gottesdiensten: „Ich bekenne, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe. Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken …“ Oft haben mir Menschen erzählt, dass sie Kirche vor allem mit schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen verbunden und deswegen verlassen haben.
Also lieber weg mit dem dunklen Wort? Oder weist es womöglich auf tiefere Wahrheiten hin, die zwar unbequem, aber trotzdem sinnvoll und heilsam sind? Wir wären in guter Gesellschaft. „Wahr ist es, ich bin Sünder, ich bin schwach im Glauben, das kann ich nicht leugnen“, sagt Martin Luther. Und Papst Franziskus pflichtet ihm bei: „Ich sehe mich nicht als etwas Besonderes. Ich bin ein ganz normaler Mensch, der tut, was er kann. Ich bin Sünder und bin fehlbar.“ Perdu die Unfehlbarkeit! Und gewonnen eine ökumenische Erkenntnis: Sünde ist nichts, was man anderen in die Schuhe schieben soll. Es geht um den Blick in den Spiegel, um Selbsterkenntnis und Verantwortung. Einsehen, dass ich nicht besser bin als andere und die Wahrheit nicht gepachtet habe. Das ist ein radikaler Einspruch gegen Rechthaberei und Fundamentalismus.
Das Wort „Sünde“ ist mit dem deutschen Wort „Sund“ verwandt und bedeutete so viel wie Abgrund, Graben, Trennung. Das hat nichts mit Moral und Sahnetorte zu tun. Es beschreibt einen inneren Zustand schmerzhaften Getrenntseins – ein Gefühl, das jeder kennt. Etwas stimmt nicht, und wir wissen nicht genau, was. Für Herzensanliegen fehlt die Zeit. Für notwendige Veränderungen geht der Blick verloren. Wir sind nicht mehr mit ganzem Herzen dabei – nicht mehr bei uns selbst, nicht bei den anderen, nicht in der Welt, nicht in der Freude, nicht im Schmerz. Diese Vermeidungsstrategie macht langfristig krank – die Menschen und die Welt auch. Sünde ist ein Wort für dieses Unheil.
Das Wort berührt die Schattenseiten: die Schuld, das Dunkel in der Seele und im Leben, die weniger netten Gesichter und menschlichen Nickeligkeiten, die jeder Mensch auch hat. Neid, Habgier und Hassgefühle, Suchtverhalten und Egotrip, Herzenshärte sich selbst und anderen gegenüber – und manches mehr, das wir äußerlich und oft auch vor uns selbst verbergen. Die Welt will Lächeln und Leistung sehen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Hinter den Masken leiden viele Menschen daran, dass sie ihr Ungenügen und das Misslungene wie einen inneren Makel verbergen.
Heilsamer ist es, mit Sünde offener umzugehen und die eigenen Schatten nicht zu leugnen. Das Miteinander würde wahrhaftiger und barmherziger. Denn wer eigene Fehler eingestehen kann, wird anderen gegenüber großzügiger und verurteilt sie nicht so schnell. „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“, sagt Jesus zu den Pharisäern, die eine Ehebrecherin steinigen wollen. Er unterbricht den Ruf nach Strafe, schweigt und malt in den Sand. Innezuhalten, bevor man ein Urteil fällt, sich an die eigene Nase fassen, das ist die hohe Kunst praktischer Nächsten- und Feindesliebe. Die Frage ist dann: Wie kann ich zu einer Lösung beitragen, ohne jemanden zum Sündenbock zu machen?
Flüchtlinge sterben im Mittelmeer. Das ist zweifellos Sünde und schreit zum Himmel. Es zeigt die furchtbare Ungerechtigkeit der Welt – den Graben, ja Abgrund zwischen reich und arm. Der Reflex ist oft, die Schotten dicht zu machen, ganz praktisch oder im übertragenen Sinne. Das ungeheure Leid, die eigene Ohnmacht und schuldhafte Verstrickung in dieses Grauen sind kaum auszuhalten. Aber genau darum ginge es: hinsehen, aushalten und nicht die Schuld hin- und herschieben, sondern den eigenen Beitrag zur Lösung suchen.
Der Theologe Paul Tillich schrieb: „Unsere Ohren sind ebenso taub für die Schreie aus der sozialen Tiefe wie für die Schreie aus der Tiefe unserer Seele. Wir lassen die Opfer unseres gesellschaftlichen Systems allein, ohne auf ihre Hilferufe im Lärm des Alltagslebens zu hören, ebenso wie wir es mit unseren gequälten Seelen tun.“ Martin Luther sprach vom „Homo incurvatus in se“ – vom in sich selbst verkrümmten Menschen, der sich vor allem um das eigene Wohl kümmert. Jeder ist seines Glückes Schmied oder muss sein Elend alleine ausbaden. Das beschreibt theologisch die Sünde in unserer globalisiert-kapitalistischen Welt: Zusammenhalt, Mitgefühl und gemeinsame Verantwortung drohen auf der Strecke zu bleiben. Amerika first, Brexit, Mauern gegen Flüchtlinge, wachsende Depression und Einsamkeit in der Gesellschaft sprechen eine deutliche Sprache.
„Löse die Stränge der Fehler, die uns binden, wie wir loslassen, was uns bindet durch die Schuld anderer. Löse unsere inneren Knoten, dass wir fähig sind, uns von Herzen mit anderen zu verbinden …“, so überträgt der Mystiker Neil-Douglas Klotz die sechste Bitte des Vaterunsers („Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“) aus dem Aramäischen. Jesus konnte noch am Kreuz sagen: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Er verurteilte nicht. Er blieb in Leid und Liebe verbunden. Darauf zielt auch die Osterbotschaft: Es gibt eine heilig-heilende Kraft, die uns befreit von den Verstrickungen, die das Wort Sünde benennt. Dieser Geist lässt Menschen auferstehen in ein neues Leben. Sie müssen die Sünde nicht leugnen, sondern können lieben und mitleiden. Und heilsame Auswege suchen. Immer wieder neu.
Die Autorin ist Pastorin in der Friedenskirche und der Kirche der Stille der Kirchengemeinde Altona-Ost.
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