D
ie Bibel ist ein Buch des Glaubens. Sie erzählt von Menschen, die an Gott festhalten, von der Stärke des Glaubens, davon, wie das Vertrauen auf Gott neue Wege eröffnet, selbst da, wo keine mehr möglich scheinen. Dies ist der Grundton der Bibel, aber nicht ihr einziger. Sie ist auch voller Zwischentöne, die zaghafter und zweifelnder klingen. Sie beschreibt den Glauben nicht nur in seiner Harmonie, sondern auch in seiner Dissonanz: Sie merzt den Zweifel nicht aus, sondern gibt ihm an vielen Stellen einen Resonanzraum. So konnten etwa Abraham und Sara zunächst nicht glauben, dass sie im hohen Alter noch Kinder bekommen würden, sondern zweifelten an dieser Verheißung.
Üblicherweise wird der Zweifel für das Gegenteil von „Glaube“ gehalten: Der Glaube ist die feste Überzeugung. Der Zweifel stellt alles infrage. Doch genauer betrachtet liegen Glaube und Zweifel viel näher beieinander. Auch verliert der Zweifel etwas von seinem negativen Charakter: Denn ganz ohne Zweifel kann niemand leben. Gesundes Misstrauen ist in unserer Welt lebensnotwendig. In der Natur ist nicht alles vertrauenswürdig: Wenn die Tollkirsche noch so toll aussieht, sie ist doch giftig.
Die modernen Wissenschaften werden gar von diesem Zweifel angetrieben, ja zu diesem Zweck von der Gesellschaft bezahlt. Sie sollen die Grundlagen des Lebens immer wieder auf den Prüfstand stellen. Das gilt nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern zum Beispiel auch für die Disziplinen, die sich mit Fragen von Frieden und Gerechtigkeit auseinandersetzen. Ohne den Antrieb, das Alte, bisher Gültige immer wieder zu hinterfragen, wäre die Menschheitsgeschichte wohl eine andere.
Auch die Bibel lehnt den Zweifel nicht einfach ab. Auch für sie ist er eine Kraft der Veränderung und Erneuerung. Dafür ist der „ungläubige Thomas“ ein gutes Beispiel, das im Johannesevangelium erzählt wird: Jesus ist tot. Thomas und die anderen Jünger haben sich in ein Haus zurückgezogen und trauern. Plötzlich betritt ein Fremder das Haus. Die Jünger erkennen sofort in ihm Jesus, nur Thomas nicht. Er kann zunächst nicht glauben, dass der Fremde wirklich Jesus ist – auferweckt von den Toten. Erst als er eigenhändig die Wunden der Kreuzigung berühren darf, die Jesus noch an seinem Körper trägt, ist er überzeugt: Es ist Jesus, der Auferstandene. „Mein Herr und mein Gott!“, sagt er zu Jesus. Das ist die höchste und ehrfurchtsvollste Anrede, die im ganzen Johannesevangelium zu Jesus gesagt wird.
Thomas will nicht nur vom Hörensagen, sondern durch eigene Erfahrung überzeugt werden. Er zweifelt, will nicht blind glauben, sondern begreifen und verstehen. Wer wollte ihm das vorwerfen? Der Sinn des Lebens, die grundlegende Gewissheit für das eigene Leben, kann nur dort erfahren werden, wo der Glaube selbstständig geworden ist. Für diese Einsicht könnte der Jünger Thomas stehen. Gewissheit gibt es dort, wo der Glaube zu meinem persönlichen Eigentum geworden ist, wo er die individuellen und persönlichen Züge jedes und jeder Einzelnen angenommen hat.
„Zweifeln“ bedeutet ursprünglich „doppelt“ oder „gespalten“ zu sein. Wir treten in ein Verhältnis zu uns selbst und fragen uns: „Kann das stimmen?“ Wer so fragt, handelt nicht unvernünftig. Auch in religiösen Dingen ist es kein Fehler, Fragen an den Glauben zu stellen: Kritische Rückfragen an unseren Glauben sind niemals ein Zeichen von Krankheit, sondern gerade von Gesundheit. Krank wird der Glaube erst, wenn die Fragen aufhören.
Der Zweifel, das kritische Selbstverhältnis, kann guter Begleiter des Glaubens sein. Allerdings kann das Verhältnis auch kippen: Ist die Balance zwischen Glaube und Zweifel verloren, kann es auch in der Verzweiflung enden. Menschen brauchen dann Trost und Begleitung auf der Suche nach neuer Lebensgewissheit. Hilfreich ist der Zweifel dagegen, der früher vor allem „Anfechtung“ genannt wurde. Man könnte in so einem Zweifel auch den Zwillingsbruder des Glaubens sehen: Denn der Glaube ist ein tiefes Vertrauen, durch das sich der Mensch über das hinauswagt, was er hat, sieht und beweisen kann. So wie Jakob, von dem die Bibel erzählt: Jakob hat sich mit seinem Bruder Esau zerstritten, der sich den Segen des Vaters erschlichen hat. Trotzdem spürt er, dass Gottes Verheißung nicht an ihm vorbeigehen wird. In der Nacht vor der geplanten Versöhnung begegnet Jakob an der Furt eines Flusses einem Fremden, der ihn unvermittelt angreift. Jakob nimmt den Kampf auf und ringt mit dem Fremden bis zum Morgengrauen. Er scheint zu ahnen, dass der Fremde Gott selbst ist. Seinen ganzen Zweifel und seine Ängste legt er in das Ringen und ruft: „Ich lasse dich erst gehen, wenn du mich gesegnet hast.“ Der Fremde fragt ihn schließlich nach seinem Namen und gibt ihm dann einen neuen: Jakob soll jetzt „Israel“ heißen und zum Stammvater eines großen Volkes werden. So geht er zwar verletzt an der Hüfte aus dem Kampf hervor, aber ist dennoch gestärkt. Am nächsten Tag ist er bereit für die Versöhnung mit seinem Bruder.
Dieses Ringen mit einem nahen und zugleich fernen Gott spiegelt sich in vielen biblischen Geschichten wider: von Abraham, der um Nachkommen bangt, über Mose, der Gott in einem brennenden Dornbusch erkennt, bis hin zu den Psalmbetern, die Gott loben, aber auch mit ihm hadern, und den Jüngern Jesu, deren Glaube nicht nur in Seenot an seine Grenzen kommt. Immer wieder erzählen sie davon, wie Menschen suchen, fragen, zweifeln. Dabei erleben sie Gott als nah und fern, unsichtbar, aber gegenwärtig. Das ist es wohl, was den Gott der Bibel ausmacht: „In weiter Ferne, so nah“ zu sein.
Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Kirche