Kirche

Ein Begriff, der in den Bann zieht

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Ann-Britt Petersen

Das Wort „heilig“ taucht sowohl in der religiösen wie in der Alltagswelt auf. Wolfram Weiße erklärt, was es in seinen verschiedenen Zusammenhängen bedeutet

Wolfram Weiße ist Professor für Religionspädagogik und ökumenische Theologie. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehört der interreligiöse Dialog. 2010 gründete er die Akademie der Weltreligionen an der Universität Hamburg und leitete sie bis 2017. Derzeit führt er das europäische Forschungsprojekt „Religion und Dialog in modernen Gesellschaften“ an.

Hamburger Abendblatt: Was bedeutet „heilig“ in der Religion?

Wolfram Weiße: Heilig wird als etwas erlebt, das im Zentrum steht, in seiner Wirkung zentral ist, aber nicht wirklich definiert werden kann. Der Religionswissenschaftler Rudolf Otto beschrieb in seinem Buch „Das Heilige“ die irrationale Erfahrung des Heiligen, die sich in zwei Momenten äußert. Zum einen wirkt das, was Gott bedeuten könnte, auf den Menschen als etwas Faszinierendes, In-den-Bann-Ziehendes – Otto nannte es das „Mysterium fascinans“. Zum anderen kann es den Menschen erzittern, erschaudern lassen, das nennt er „Mysterium tremendum“. Diese zwei Pole zeigen das Spannungsverhältnis, in dem sich die Erfahrung des Heiligen bewegt.

Ist der Begriff gleichzusetzen mit Gott?

Er umfasst mehr. Er bezieht sich nicht nur auf Gott. Gott ist das Ganze. Dazu gehören aber auch diejenigen, die in seinem Wirken leben. Ein Abglanz dessen, was heilig ist, kann sich auch im Menschen spiegeln. Es ist also auch ein Beziehungsbegriff, und er ist nicht statisch. Der Mensch oder eine Glaubensgemeinschaft ist nicht ein für allemal heilig und kann dann machen, was sie will. Sondern die Beziehung ist mit einem Anspruch Gottes an den Menschen verbunden, mit einer Ethik, wie sich die Menschen verhalten. Dass sie etwa in Nächstenliebe handeln.

Gilt diese Vorstellung nur für das Christentum?

Das Heilige, das sich als etwas Besonderes und Verehrungswürdiges ausdrückt, finden wir in allen Weltreligionen. Die Verehrung kann sehr unterschiedlich aussehen. Im orthodoxen Christentum geschieht sie etwa mittels der Heiligenbilder, der Ikonen. Andere Formen sind die Verehrung heiliger Personen im Christentum, besonders im Mittel­alter. Luther und andere Reformatoren forderten dagegen, die Heiligen dürften keinen höheren Stellenwert bekommen als Gott und Jesus selbst. Die katholische Kirche legte später fest, dass die Heilig­gesprochenen zwar eine besondere Nähe zu Gott auszeichnet, aber sie dennoch Menschen bleiben. Auch im Buddhismus gibt es das Bewusstsein des Besonderen, dort werden ebenso wie in der katholischen Kirche Reliquien verehrt. Im Hinduismus drückt sich das Heilige auch im furchterregenden Moment aus, etwa mit der Göttin der Zerstörung, die wieder etwas Neues ermöglicht. Im Alevitentum gilt alles, worin sich Gottes Kraft zeigt, als heilig, das kann in der Natur sein, aber vor allem im Menschen.

Warum gibt es im Christentum noch zusätzlich einen Heiligen Geist?

Der Heilige Geist ist im Christentum neben Gott Vater und dem Sohn ein Ausdruck der Dreifaltigkeit. In ihm wird etwas Besonderes zum Ausdruck gebracht. Es ist eine dynamische Kraft, die vielleicht noch mehr als andere klarmacht, dass hier etwas am Wirken ist, worauf ich keinen Einfluss habe, was etwas Unberechenbares bewirken kann, und zwar sowohl für mich als auch für die Gesellschaft.

Ist eine Kirche automatisch ein heiliger Ort?

Kirchen sind insofern heilig, als sie einen besonderen Platz für die Erfahrung des Heiligen bieten. Aber nur in diesem Zusammenhang können sie ihre Heiligkeit bewahren. Man kann sie nicht per Dekret zu Sakralbauten für immer bestimmen. Sie bleiben es nur, solange Menschen sie als einen Ort für die Anbetung Gottes, für ihr religiöses Erleben und ihre religiöse Praxis nutzen. Wenn die Leute ausbleiben, dann denke ich, ist es vom Religiösen her kein Sakrileg, Kirchen zu entsakralisieren, sie anderen Religionsgemeinschaften zu übereignen oder sie durchaus auch einzureißen.

Warum werden Schriften wie die Bibel als heilig bezeichnet?

Das ist in den Religionen sehr unterschiedlich. Man kann im Christentum etwa das Neue Testament als Heilige Schrift bezeichnen, da es mit seinen Gleichnissen und Predigten Zeugnis davon ablegt, wie sich das Wirken von Jesus abgespielt hat. Es ist eine Annäherung an das, was Gott bedeuten kann. Und so ist es auch in anderen Schriften. Es ist die Erinnerung und auch die Aufforderung, den Inhalt auf sich wirken zu lassen, darüber nachzudenken. Was die Auslegung der Texte betrifft, gibt es verschiedene Strömungen. Die einen sagen etwa, das Neue Testament sei die direkte Stimme Gottes. Und die anderen fragen, wie verstehen wir den Text eigentlich? Wir brauchen eine Übersetzung in die heutige Zeit. Diese Auseinandersetzung ist in allen Religionen wichtig, denn religiöse Texte beinhalten auch viele Widersprüchlichkeiten. Wir können sie also nicht als Normen ansehen, sondern als zu interpretierende Zeugnisse, die besagen, was Religion für ein erfülltes Leben und für die Verantwortung gegenüber anderen bedeuten kann.

Was bedeutet „heilig“ in der Moderne?

Es ist interessant, dass ein Begriff, der in der Religion eine zentrale Bedeutung hat, eine Transformation ins Säkulare, ins Weltliche, erfahren hat. Es zeigt, dass man ahnt, was im Religiösen gemeint ist, und das auf die persönliche Erfahrung überträgt. Wenn man sich fragt: „Was ist mir heilig?“, dann heißt das, was ist für mich unverfügbar, was ist für mich so zentral, dass ich ohne Abstriche dafür einstehe? So sorgt dieser Begriff in der Alltagswelt für eine klare Position, so wie es auch im Glauben Heiliges gibt, das unverfügbar ist.

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