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er Weg hat dich irgendwann so weit, dann fängst du an zu flennen.“ Die junge Pilgerin, die diese Worte sagte, hatte erlebt, was die Qualität des Pilgerns ausmacht: zu sich kommen, Grenzen erreichen und sich selbst nicht mehr ausweichen können. Erst dann können Menschen erfahren, wie sie getragen und verwandelt werden. Pilgern ist Bewegung im umfassenden Sinn: Körper, Geist und Seele kommen in Gang, und Pilgernde erleben, wie das eigene Wesen befreit wird, und man beginnt, sich einzulassen auf die Welt, die „unsichtbar sich um uns weitet“ (Hermann Hesse). Zu Fuß kommen Menschen so ins Beten, und sei es in der großen wortlosen Stille, in der das Herz spricht.
Solche und ähnliche Erfahrungen machen für viele Menschen den Reiz des Pilgerns aus. Sie haben erlebt, wie Begegnungen mit Fremden ihnen geholfen haben, offen und frei von dem zu sprechen, was tief in der Seele verborgen liegt. Und sie haben einander geholfen bei Blessuren, Blasen und Verirrungen, bei Verständigungsproblemen und bei der schmerzlich-freudigen Ankunft am Ziel, dort, wo der Pilger „stirbt“ und den Heimweg in den Alltag antreten muss.
Pilgern wird von vielen Menschen als eine Aneinanderreihung wichtiger und teilweise verwandelnder Erfahrungen beschrieben. Und dabei ist es ganz egal, ob jemand in Spanien, Norwegen oder Norddeutschland unterwegs ist. Schon der Weg von wenigen Tagen zwischen Lübeck und Hamburg kann diese heilsamen Kräfte freisetzen, von denen Pilgernde aller Zeiten berichtet haben. Pilgern kann für Menschen eine sehr wichtige Erfahrung fürs Lebens werden.
Im Pilgerzentrum an der Hauptkirche St. Jacobi in Hamburgs Zentrum berichten viele Pilgernde beeindruckt und beglückt davon. Wer einmal gegangen ist, macht sich meistens wieder auf den Weg. Sie haben erfahren, wie wenig ein Mensch in Wirklichkeit braucht, um glücklich zu sein: Ein Rucksack von etwa acht Kilogramm beinhaltet alles Notwendige. Die Freundlichkeit vieler Gastgeber gibt es kostenlos, die Begegnung mit anderen Pilgernden ist pures Geschenk, und der Kontakt zur Natur zeigt ihnen, dass wir Menschen Geschöpfe Gottes sind, die „draußen“ ein besonderes Zuhause entdecken können.
Pilgern – das ist, sich für einen Zeitraum auf die Wegexistenz der ersten Christen und Christinnen einzulassen. Gemeinschaft des „neuen Wegs“ nannte sich die Jesus-Bewegung, und sie zogen betend und predigend umher. So verbreiteten sich die Berichte und Gleichnisse von Jesus rasant und innerhalb weniger Jahre bis an die Enden der damaligen „Welt“, lateinisch: „finis terrae“.
Bei dem Bewegen durch Landschaften kommt auch innerlich viel in Gang
Das Christentum ist von Anfang an eine „Pilgerreligion“. Es ist nicht an einen Ort, ein spezielles Heiligtum gebunden, sondern an Worte, die das Heilige überall erfahrbar machten. Damit setzten die ersten Christen fort, was schon das Gottesvolk Israel erlebt hat: dass Gott herausruft aus festgefahrenen Situationen und befreit. Und dieser Gott segnet zum Aufbruch und begleitet die Menschen, wohin sie gehen. Keltische Pilgermönche und -nonnen setzten diese „peregrinatio“, den Aufenthalt in der Fremde, seit dem
vierten Jahrhundert fort und trugen so das Evangelium weit nach Europa hinein. Sie wurden „scoti peregrini“ genannt, die iroschottischen Pilger-Missionare. Einer der berühmtesten von ihnen ist der heilige Kolumban, aber auch Gallus, Brigida, Kilian und Patrick haben in Europa ihre Spuren hinterlassen.
Das Christentum ist eng mit dem Pilgern verbunden und hat immer dann seine ganz starken Phasen gehabt, wenn es in der Krise war. Erstarrungen in Theologie und Institution waren immer Grund für Reformationen innerhalb des Christentums – auch das ist eine Art „Pilgergeist“. Franziskus von Assisi wanderte umher und betete in der Natur. Hildegard von Bingen entdeckte die Weisheit und Spuren des keltischen Christentums und blieb Pilgerin ebenso wie die heilige Birgitta von Schweden oder auch Martin Luther. Möglicherweise hat der Reformator auf der langen Pilgerschaft von Erfurt nach Rom und zurück die Bekanntschaft mit dem gnädigen Gott gemacht, der ihn und seinen Mitpilger beschützte bei der winterlichen Alpenquerung. „Pilgern“, so hat es Luther erlebt, sei „eine gute geistliche Übung“.
Erfahrung ist ein wesentliches Element des Pilgerns. Man muss sich schon auf den Weg machen. Bei äußerer Bewegung kommt auch innerlich viel in Gang, und die äußere Landschaft kommt mit den inneren Landschaften ins Gespräch. Wind, Wetter, Regen, Sonne – wir können ahnen, was die Umstände einer Pilgerwanderung mit Menschen machen. Draußen in der Luft und Natur ist der ganze Mensch frei, und diese Erfahrung suchen Pilgernde immer wieder.
Die Wege der Jakobspilger nach Santiago de Compostela zur legendären Grabstätte des Apostels Jakobus ziehen sich durch ganz Europa. Auch der Norden ist ein Pilgerland mit verschiedenen Wegen (siehe Kasten).
Und was brauchen Pilgernde? Einen Pilgerpass, Karten oder einen Pilgerführer (elektronisch oder in Buchform). Sie brauchen geeignete Stiefel und Bekleidung, mit der sie sich bei jedem Wetter draußen aufhalten können. Interessierte sind herzlich eingeladen, die nächste Pilger-Messe in der Hauptkirche St. Jacobi (24.2., 11 bis 16 Uhr, Jakobikirchhof 22) zu besuchen. Dort kann man sich an über 40 Ständen über das Pilgern erkundigen.
Der Autor ist Pilgerpastor der Nordkirche und Leiter des Pilgerzentrums an der Hauptkirche St.Jacobi.
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