Schlüsselbegriffe des christlichen Glaubens

Das Geschenk der Zuneigung

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Erbsünde, Sakrament oder auch Jungfrauengeburt – was bedeuten diese Wörter, und wer versteht sie heute noch? In dieser Folge erklärt Jens Ehebrecht-Zumsande die Gnade

S
o ein Mist! Tobias schummelt bei der Klassenarbeit, und die Lehrerin erwischt ihn mit seinem Spickzettel auf frischer Tat. Doch sie lässt Gnade vor Recht ergehen und gibt ihm statt der Note „Sechs“ überraschend eine zweite Chance.

Chelsea Manning hat als Soldatin im Irakkrieg Hunderttausende geheime Dokumente an die Enthüllungsplattform WikiLeaks weitergegeben. Ein Gericht verurteilt sie zu 35 Jahren Haft. Präsident Obama begnadigt sie kurz vor dem Ende seiner Präsidentschaft. Sie kommt nach sieben Jahren Haft aus dem Gefängnis. Das sind 28 geschenkte Jahre.

Maria Köllner betreibt einen Gnadenhof für „aussortierte“ Tiere in der Nähe von Buchholz. Alte und kranke Tiere und solche, die ihre Besitzer einfach nicht mehr haben wollen, finden hier Zuwendung und einen neuen Lebensort.

Drei Beispiele aus dem Leben, die alle etwas mit Gnade zu tun haben. Mag der Begriff Gnade auf den ersten Blick auch wie aus einer anderen Zeit erscheinen: Das, was er zum Ausdruck bringt, ist doch ganz lebensnah und aktuell.

Ein Schlüsselwort für das besondere Miteinander von Gott und Mensch

Die Beispiele machen deutlich, dass Gnade immer etwas mit der Erfahrung des Beschenktwerdens zu tun hat. Weder Tobias noch Chelsea Manning noch ein altersschwaches Pferd können fordern, dass jemand ein Auge zudrückt, Fünfe gerade sein lässt oder ihnen ganz unverdient Verständnis entgegenbringt. Gnade kann wohl erhofft oder erbeten, nicht aber eingefordert oder gar verlangt werden. Leere Hände und ein erwartungsvolles Herz sind die Grundhaltungen derer, die auf Gnade hoffen. Und das hat viel mit der christlichen Religion zu tun. Das Wort Gnade beschreibt, wie die Beziehung zwischen Gott und Mensch erfahren werden kann.

Im Christentum wird das Göttliche immer auch personal gedacht: Christen glauben, dass Gott in Jesus Mensch geworden ist. Sie erfahren die mütterliche oder väterliche Seite Gottes. Und Gott kann wie eine Freundin oder ein Freund an meiner Seite sein . Davon erzählen biblische Geschichten, Gleichnisse und mythologische Texte. Gnade ist da wie ein Schlüsselwort, das etwas von dem Mit­einander von Gott und Mensch beschreibt. Darum ist Gnade vor allem ein Beziehungsbegriff. In den biblischen Sprachen Hebräisch und Griechisch gibt es verschiedene Übersetzungen für das deutsche Wort Gnade wie: Liebe, Güte, das Frohmachende, das Ungeschuldete. Vermutlich würden Tobias, Chelsea Manning und sogar das Pferd, wenn es könnte, mit Wörtern wie diesen davon erzählen, was für sie Gnade oder Begnadigung bedeutet.

Folgt man dem deutschen Wortursprung, ergeben sich Übersetzungen wie: sich herablassen, sich neigen. Mir gefällt, sozusagen als zusammenfassendes Wort, dass Gnade eine Erfahrung von Zuneigung beschreibt. So wie sich Eltern liebevoll ihrem Kind zuwenden, so wendet sich der gnädige Gott dem Menschen zu. Natürlich ist das ein Bild, aber ein sehr kraftvolles! Eine solche Zuwendung hat Auswirkungen. Für den Apostel Paulus ist Gnade daher ein wichtiger Begriff, um den Glauben und seine Erfahrung mit Jesus Christus zu beschreiben. Für ihn ist wesentlich, dass Glaube nicht zuerst eine Leistung des Menschen ist, sondern ein Geschenk von Gott.

Im Reformationsgeschehen gehörte dies zu den zentralen Streitfragen. Sind Gottes bedingungslose Zuwendung und die daraus kommende Freiheit geschenkt, oder muss der Mensch sie durch eigene Werke bewirken? Heute ist das zwischen den christlichen Kirchen kein Streitthema mehr. Gott schenkt die Liebe gratis ohne Gegenleistung, einfach weil er die Menschen liebt.

In der Vorstellung von Gnade steckt auch ein Potenzial zur Anarchie

Versteht man Gnade in diesem Sinn als eine geschenkte Zuneigung, die von Gott ausgeht, bedeutet das aber nicht, dass der Mensch nur passiver Empfänger ist. Beziehung gestaltet sich ja immer wechselseitig und bedeutet ein Miteinander. Liebe will zugelassen, angenommen und erwidert werden. Das ist der aktive Part des Menschen. Darum ist Gnade kein theologisches Theoriegebilde, sondern etwas ganz Konkretes.

Die Erfahrung von Gottes Gnade lässt Menschen nicht unberührt, sie bewirkt etwas – zwischen dem einzelnen Menschen und Gott sowie letztlich auch zwischen Menschen. Sie verändert das Miteinander und überwindet scheinbar Trennendes. Die Bibel erzählt davon: Sklaven und Freie, Männer und Frauen sitzen bei Tisch und teilen miteinander Brot und Wein. Menschen, die Gott als befreiende Kraft erfahren haben, setzen sich für Gerechtigkeit und Frieden ein. Gnade geht sehr weit, manchmal über die Grenzen hinaus. Wer der Spur der Gnade folgt, wendet sich den Tätern genauso zu wie den Opfern! Und so steckt im Begriff der Gnade das Potenzial zur Anarchie!

Wer Gottes Zuneigung erfahren hat, handelt nicht immer logisch. Wer auf Gottes Gnade vertraut, ist auch nicht immer konsequent. Gläubige Menschen sind manchmal sogar total verrückt! Und so kann man zu Recht fragen: Wo kommen wir hin, wenn Schummler wie Tobias nicht die gerechte Strafe bekommen? Wo soll das enden, wenn jedes schwache Tier durchgefüttert wird? Wohin führt das, wenn die Mächtigen dieser Erde die Gefängnisse öffnen? Wo kommen wir hin, wenn Gnade vor Recht ergeht?

Vermutlich kommen wir sehr weit damit!

Der Autor leitet den Strategiebereich Missionarische Kirche in der Pastoralen Dienststelle des Erzbistums Hamburg.

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