Vorurteile abbauen, die russische Kultur kennenlernen und ein Abenteuer erleben - das alles bietet das Freiwillige Soziale Jahr und der “Andere Dienst im Ausland“, den vom Zivildienst freigestellte junge Männer leisten können.

Seit mehr als zehn Jahren arbeitet das Diakonische Werk (DW) Hamburg mit Partnerorganisationen in Russlands zweitgrößter Stadt zusammen und ermöglicht jungen Deutschen, sich dort in sozialen Projekten zu engagieren. Sowohl die Freiwilligen wie auch die Friedensdienstler des "Anderen Dienstes im Ausland", können wählen, in welchem Bereich sie eingesetzt werden möchten.

Mitarbeiten können sie beim Projekt "Mitternachtsbus" des Vereins "Nachtasyl", der sich für Obdachlose engagiert. In der "Deutschen evangelisch-lutherischen St.-Petri-Gemeinde" können sie häusliche Altenpflege übernehmen oder in der nicht staatlichen Organisation "Innovationen" mit Straßenkindern arbeiten.

Bei allen Projekten geht es um humanitäre Hilfe, denn viele Menschen sind von Armut und Krankheit betroffenen. "Es geht aber auch um den interkulturellen Austausch, der das Verständnis für die russische Geschichte und Kultur wecken soll", sagt Jürgen Hufeland, Referent für Osteuropa beim DW. Dabei werden Deutsche auch mit der eigenen Geschichte konfrontiert. Im früheren Leningrad hatte die Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg unter der Belagerung durch die Nazis schwer gelitten. Heute können junge Deutsche zur Annäherung der Kulturen beitragen, wenn sie sich um die noch lebenden Zeitzeugen kümmern.

Wer sich für einen Einsatz bewirbt, sollte schon Russisch können, während des Aufenthaltes wird der Sprachunterricht fortgesetzt. Wie man sich trotz Sprachhemmnisse zurechtfindet und St. Petersburg lieben lernt, erzählen hier drei ehemalige Engagierte.

Infos: mausolf@diakonie-hamburg.de

Johan Graßhoff (21) absolvierte vor dem Beginn seines Soziologie- und Osteuropa-Studiums ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in St. Petersburg: "Die Möglichkeit, ein FSJ in St. Petersburg zu machen, war genau richtig für mich. Ich hatte in der Schule sieben Jahre Russisch und wollte gerne mehr über das Leben in Russland erfahren. In St. Petersburg war ich im Nachtasyl und beim Mitternachtsbus eingesetzt. Das Nachtasyl ist eine Anlaufstelle für Obdachlose, sie bekommen hier Essen und medizinische Versorgung. Von hier aus startet auch der Mitternachtsbus. Er ist ein Ableger des Hamburger Mitternachtsbusses, mit dem ich vor der Abreise auch eine Tour mitgefahren bin. In St. Petersburg fährt er abends vier Stationen an, um Suppe, Brot und Tee an Obdachlose auszugeben. Die Suppen werden von russischen Restaurants gespendet. Unter den Menschen, die zum Bus kommen, sind viele alte Leute und auch Kinder. Das Leben auf der Straße ist sehr hart, besonders im lang anhaltenden Winter. Trotz ihrer schweren Situation zeigen viele erstaunlichen Lebensmut und versuchen, das Beste aus ihrer Lage zu machen. Das hat mich beeindruckt. Woran ich mich erst gewöhnen musste, war, dass man überall lange anstehen muss und das öfter mal Strom oder Wasser ausfällt. Besonders gut gefallen hat mir das riesige kulturelle Angebot der Stadt und dass mir die Menschen, mit denen ich zu tun hatte, so herzlich und gastfreundlich begegneten."

Moritz Schuldt (21), Student der Verfahrenstechnik, leistete den "Anderen Dienst im Ausland" vergangenes Jahr in der Deutschen St.-Petri-Gemeinde in St. Petersburg: "Dass ich im Ausland arbeiten wollte, stand für mich lange fest. Am Heidberg-Gymnasium hatte ich Russisch als Leistungskurs und bin schon einige Male zum Schüleraustausch in Russland gewesen, deswegen habe ich mich für den Einsatz in St. Petersburg beworben. Hier habe ich mich um ältere Menschen gekümmert, sie zu Hause besucht, mich mit ihnen unterhalten, sie zu Arztterminen begleitet. Sie waren alle älter als 70 Jahre, lebten einsam oder krank in ärmlichen Verhältnissen. Der Unterschied zwischen arm und reich ist krass in St. Petersburg. Man sieht in der Innenstadt die Luxuswagen der Milliardäre, daneben alte, verlumpte Frauen, die ihr Hab und Gut verkaufen. An der Prachtstraße Newski Prospekt gibt es edle Geschäfte, Cafés und Nobel-Diskotheken, in den Vororten viele heruntergekommene Häuser. Nach anfänglichen Sprachproblemen hatte ich herzliche Beziehungen zu den Menschen, die uns Zivis oft mit einem Lächeln dankten. Und durch das Arbeiten in einem anderen Land bin ich selbstbewusster geworden."

Philipp Dickel (27) absolvierte zwischen 2000 und 2001 seinen "Anderen Dienst im Ausland" in St. Petersburg. Er studiert heute Medizin: "Als ich damals in der St.-Petri-Gemeinde anfing, herrschte in Russland die Zeit des Umbruchs, alte Strukturen, auch in der sozialen Versorgung, brachen weg. Es gab sehr viel Armut unter Rentnern. Ich habe bedürftige Senioren betreut, darunter auch zwei Blinde, ihnen im Haushalt geholfen, gekocht, sie zu Ärzten begleitet und mich mit ihnen unterhalten. Zu Anfang war es sehr schwer, denn ich hatte erst ein halbes Jahr vor meinem Aufenthalt begonnen, Russisch zu lernen. Eine Blinde bat mich, ihr Texte von Puschkin vorzulesen, dass hat meine Sprachkenntnisse vertieft. Dazu hatte ich regelmäßig Russischunterricht bei einer über 80-jährigen ehemaligen Professorin für Germanistik. Sie war eine beeindruckende Frau. Wie viele von den älteren Russen hatte sie im Zweiten Weltkrieg die Blockade des damaligen Leningrads durch die Deutschen miterlebt und war von einem deutschen Heckenschützen angeschossen worden. Obwohl sie an den Folgen der Verwundung leidet, hat sie Germanistik studiert und ist uns jungen Deutschen mit keinerlei Ressentiments begegnet. Wir haben über russische und deutsche Geschichte und Gesellschaftstheorien diskutiert, das hat mir viele neue Einblicke gegeben. So ein soziales Jahr sollte jeder machen, es fördert die Auseinandersetzung mit sozialen Aspekten und in diesem Fall auch mit der eigenen Geschichte."