Wo einst der Große Brand ausbrach und Ole von Beust eine Sozialwohnung hatte, laden heute gleich sieben Restaurants zum Verweilen ein.

Hamburg. Das Haus mit der Nummer 38 ist unscheinbar. Seine niedrige weiße Fassade fällt ab gegen die imposanten Kontorhäuser aus dem 18. Jahrhundert, die auf der gegenüberliegenden Seite mit Blick auf den Nikolaifleet liegen. Es ist eine Adresse mit trauriger Vergangenheit. Eine Schautafel gibt Auskunft über die große Katastrophe, die hier begann, im Mai 1842. Lötarbeiten am Dachgebälk des Hauses entfachten das Feuer, das Korn- und Tabakspeicher explodieren ließ und sich durch die nördliche Deichstraße fraß. "Hamburg war in diesem Frühsommer knochentrocken", berichtet Klaus Francke (73) vom Verein "Rettet die Deichstraße". "Eine richtige Feuerwehr gab es nicht, lediglich Spritzenleute, die mit Wasser aus der Elbe versuchten, dem Brand Herr zu werden." Vergebens: Innerhalb weniger Tage waren 60 Prozent des Stadtkerns vernichtet, 70 000 Hamburger auf einen Schlag wohnungslos. Übrig geblieben sind die Straßen Cremon, Grimm - und die Deichsraße, in der man Geschichte sprichwörtlich atmet: Gut 700 Meter Kopfsteinpflaster mit alten Laternen, das Nikolaimahnmal im Rücken, die Speicherstadt im Visier.

Doch viel Zeit zum stillen Sinnieren bleibt nicht. "Es gibt Momente, da wird die Deichstraße geradezu von Menschen durchflutet", sagt Frank Rudolf Sobiechowski. Der Herrenausstatter lebt an der Deichstraße 16, einem Neubau aus den 90er-Jahren.

Touristengruppen besichtigen die Straße, mittags strömen Geschäftsleute in die vielen Restaurants. Die Deichstraße ist in. Und sie ist ein Stück Hamburg-Geschichte auf dem Weg in die hypermoderne HafenCity, die nur einen Steinwurf entfernt liegt. Rund 100 Menschen wohnen an der Deichstraße. Waren es im 18. Jahrhundert vor allem wohlhabende Kaufleute, sind es heute Gastronomen, Architekten und Individualisten wie Wolfgang Ebeling, Neffe der Schauspielerin Helga Feddersen. Der passionierte Segler verkauft im Sea-Shop Carl Feddersen in Haus Nummer 35 Seemannsbedarf und wohnt oben drüber mit seiner Frau Christel. "Es ist eine Schnackstraße. Die Nachbarn wissen gut übereinander Bescheid. Manchmal grillen wir spontan zusammen oder spielen Fußball." Wer hier eine Wohnung habe, der gebe sie so schnell nicht wieder her, weil es einfach so schön sei. Es hätte auch anders kommen können. Wie ein mahnendes Baudenkmal prangt das braune Monstrum der Deutschen Bundesbank am Kopf der Deichstraße, einer der modernen Neubauten aus den 70er-Jahren: "Alles, wofür kein Geld da war, sollte abgerissen werden. So war damals die Philosophie von uns Pfeffersäcken", sagt Klaus Francke selbstironisch.

Damals saß er für die CDU in der Bürgerschaft, heute ist er Vorsitzender des Vereins "Rettet die Deichstraße" und froh, dass sich die Hamburger so vehement gegen die radikale Sanierung gewehrt haben. Gegründet 1972, sorgte der Verein dafür, dass die bestehenden, aber durch den Großen Hamburger Brand zum Teil stark beschädigten Lagerhäuser aus dem 18. Jahrhundert nicht abgerissen, sondern restauriert werden. Mit einer Kreativität, die an die Retteraktionen des FC St. Pauli erinnert, suchte der Verein nach immer neuen Wegen, um Geld aufzutreiben: etwa mit Lotterien, Straßenfesten, der Versteigerung eines Michel-Uhrenzeigers und dem Verkauf des "Deichstraßentalers". 1974 erwarb der Verein das Alt-Hamburger Bürgerhaus an der Deichstraße 37 und versetzte es in seinen Urzustand. In einer der drei Sozialwohnungen lebte der Jurastudent Ole von Beust in den 70er-Jahren. Privateigentümer folgten dem Beispiel und sanierten ihre Häuser liebevoll.

Die Attraktivität, die die kleine Straße am Nikolaifleet heute auf Besucher ausübt, ist noch recht jung. "Als wir 1998 unser Restaurant eröffneten, erklärten uns Freunde für verrückt", erinnert sich Hervé Kerouréclan, Inhaber des Ti Breizh, Haus der Bretagne. Mit der HafenCity und der Aufhebung der Freihandelszone im Jahr 2003, dem 700. Jubiläum der Straße, belebte sich die Gegend. "Es kommen Menschen aus ganz Deutschland, um unsere Buchweizencrêpes zu probieren, und reservieren schon Monate im Voraus", sagt Betty Kleemiß, zweite Partnerin des Lokals.

Heute verbinden sich in dieser Straße Geschichte und Gastronomie aufs Feinste: Auf nur 700 Metern liegen sieben Restaurants verteilt. Neuerdings sieht man Leute mit bunten Eiswaffeln durch die Deichstraße schlendern, die Gelateria Italiana hat vor zwei Monaten eröffnet, ebenso die Cocktailbar Sidi Bou (nach einem indonesischen Küstenort benannt). Yuppisierung - auch dieses Wort fällt manchmal im Zusammenhang mit der Deichstraße. "Ich hoffe, dass der Verein es schafft, eine Anhäufung von Pizzabuden zu vermeiden", sagt Frank Rudolf Sobiechowski. Ihre Schönheit hat sich die Deichstraße schließlich hart genug erkämpft.

Die nächsten Folgen:

7. August: Lämmertwiete (Harburg)

10. August: Kandinskyallee (Billstedt)

12. August: Erikastraße (Eppendorf)