Christian Wilms vom Fachverband Deutscher Heilpraktiker über den Naturheilkunde-Boom.

Neuesten Erhebungen zufolge besuchen etwa fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung relativ regelmäßig einen Heilpraktiker. In Deutschland gibt es derzeit 21 000 zugelassene Naturheilkundler (neben 160 000 niedergelassenen Ärzten), von denen rund 11 000 dieser Tätigkeit als Hauptberuf in einer von 3000 "Vollerwerbspraxen" nachgehen. 18 000 Heilpraktiker sind als Mitglieder in einem der vier großen deutschen Verbände registriert. Der Fachverband Deutscher Heilpraktiker repräsentiert rund 7000 von ihnen. Christian Wilms, 51 Jahre, praktiziert seit dem Jahre 1986 in Heikendorf bei Kiel selbst als Heilpraktiker. Im Juni 2010 wurde Wilms zum Präsidenten des FDH gewählt.

Hamburger Abendblatt:

Naturheilverfahren, die alternative Medizin, erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Wie erklären Sie das?

Christian Wilms:

Das Bewusstsein für den eigenen Körper ist bei vielen Menschen größer geworden. Sie wollen nicht mehr nur starke Medikamente mit eventuell starken Nebenwirkungen verschrieben bekommen. Sie beginnen, sich selbst aktiv am Heilungsprozess zu beteiligen, sie erkennen die Grenzen der Schulmedizin und die Möglichkeiten des ganzheitlichen Ansatzes. Die naturheilkundliche Denkweise wird zunehmend verinnerlicht. Überdies wollen mündige Patienten nicht mehr wie in einem Massenbetrieb im Minutentakt abgefertigt werden. Sie sind sehr viel sensibler geworden.

Wann sind alternative Heilmethoden besonders empfehlenswert - und wann vielleicht eher nicht?

Wilms:

Die Naturheilkunde oder Alternativmedizin erzielt besonders gute Erfolge bei der Behandlung von chronischen Schmerzen und chronischen Krankheiten wie zum Beispiel Verdauungsstörungen und Allergien. Hierbei spielt häufig die Zeit eine große Rolle: Es ist wichtig, den Patienten genau zuzuhören, vor allem denjenigen, die im klassischen medizinischen Sinne austherapiert sind. Für bestimmte Infektionskrankheiten, bei der Tumorbekämpfung, bei Seuchen und angeborenen Leiden; bei chirurgischen Eingriffen und bei akuten Notfällen bleibt die Hilfe der Schulmedizin unverzichtbar.

Wo fängt Heilung an, wo hört sie auf?

Wilms:

Heilung ist nicht immer erreichbar, sondern viele Patienten sind bereits für Linderung und Besserung ihrer chronischen Beschwerden dankbar. Betrachten wir einmal die Schmerzpatienten: Den meisten Patienten ist schon geholfen, wenn eine Schmerzreduktion erreicht werden kann. Das wird häufig schon als heilsam empfunden.

Wie interpretieren Sie den Satz: Wer heilt, hat recht?

Wilms:

Vielleicht ist diese simple These nichts anderes als die Antwort auf die Frage, warum man Behandlungserfolge immer wissenschaftlich untermauern muss, damit sie öffentlich auch anerkannt werden. In der Naturheilkunde sagen wir: "Wenn es dem Patienten hilft, dann ist es Beweis genug." Der große Unterschied besteht im Ansatz der Behandlung. Salopp ausgedrückt: In der Naturheilkunde wird immer versucht, der Ursache der Erkrankung und dem eigentlichen Ursprung der Erkrankung auf den Grund zu gehen.

Sehen Sie eine Entwicklung, dass alternative und klassische Heilmethoden in Zukunft nicht mehr so kategorisch voneinander abgegrenzt werden, wie noch vor einigen Jahren?

Wilms:

Man muss genau erkennen, wo Schulmedizin und Alternativmedizin sich ergänzen können. Einem Patienten ist es ja relativ egal, wie er geheilt wird oder wie seine Beschwerden gelindert werden. Heilpraktiker sind offen für jede Zusammenarbeit zum Wohle des Patienten. Unsere Fortbildungen stehen auch klassischen Schulmedizinern offen, während dies umgekehrt leider nicht der Fall ist. Das müsste dringend reformiert werden, weil inzwischen viele klassische Schulmediziner Naturheilverfahren in ihr medizinisches Repertoire aufgenommen haben.

Wo bleiben dann die Patienten?

Wilms:

Es ist schon auffällig zu beobachten, dass die Patienten dem Heilpraktiker stets erzählen, was sie vom Arzt verschrieben bekommen haben, umgekehrt aber ist dies häufig sicher weniger der Fall. Einige Patienten haben regelrecht Angst, der Arzt könnte schimpfen, aber das kann letztendlich auch zum Schaden der Patienten sein, wenn beispielsweise die verschiedenen Behandlungsmethoden miteinander kollidieren. Insofern hoffe ich auf eine möglichst rasche und positive Entwicklung in der Zusammenarbeit, zu der die Patienten mit ihrer Auskunftsbereitschaft eine Menge beitragen können.