Neugraben. An die Zeit, als alles begann, erinnert heute kaum etwas. An der Stelle, wo in diesem Jahr die Teilnehmer des 43. Süderelbe-Marathons der Hausbruch-Neugrabener Turnerschaft (HNT) im 5- und 10-km-Lauf auf die Strecke geschickt wurden, bestimmten vor 42 Jahren, im Jahr 1975, noch Wiesen und Felder die Landschaft und die Streckenführung. Jetzt zog sich das bunte Band der Läufer durch die Torfstecherstraße und die Neugrabener Allee. Von den Balkonen der neuen Wohnsiedlung waren Anfeuerungsrufe zu hören und anerkennender Applaus.
Junge Frauen in modischem Outfit in Pink, Gelb oder Rosé, ältere Männer, gelassene Genießer die Einen, stöhnend und schnaubend die Anderen, Freunde, die sich locker unterhalten, und an ihnen vorbeidrängende Zeitfanatiker, die immer wieder auf die Uhr schauen und ihren Puls und das Tempo kontrollieren, prägen die Laufgemeinde. Ganze Familien sind unterwegs. Es ist nicht zu überhören, dass es Menschen aus aller Herren Länder sind. Mitarbeiter international agierender Konzerne wie Airbus oder Studenten und Auszubildende auch von außerhalb der Europäischen Union. Und natürlich auch junge Flüchtlinge, die beim Laufen Anschluss an unsere Gesellschaft suchen. Und allmählich auch finden.
Der Schnellste über die fünf Kilometer heißt Hailetzgi Meresie, er ist 27 Jahre alt und erst seit fünf Monaten in Deutschland. Der Mann aus Eritrea hat in Fischbek Anschluss an eine eher lose Gemeinschaft gefunden, die vor gut zwei Jahren unter dem Namen „fit4run“ zusammenfand. Es waren Frank Schwarz und Frank Stritzel vom TV Fischbek, die für das Laufen begabte junge Männer zur einer ersten Trainingsgemeinschaft zusammenführten.
Gerd-Dieter Wehlitz steht den jungen Männern oft über den Sport hinaus bei ihren Integrationsbemühungen zur Seite. Für die Herbstveranstaltung der Leichtathleten der HNT konnte er elf von ihnen für einen Start gewinnen. Und die stellten nicht nur den Sieger über die Kurzstrecke. Von den ersten neun Läufern im Ziel waren sechs der Freunde von „fit4fun“.
Ein Beispiel für die gelungene Integration durch den Sport ist Brhana Gebrebrhan. Der 22-Jährige gewann den Lauf über zehn Kilometer in 35:38 Minuten mit zwei Sekunden Vorsprung vor Miguel Abellßen aus Hamburg und Jose Poyatos, der für die Airbus Sport Gemeinschaft startet. „Brhana ist inzwischen der stärkste Läufer im gesamten Süderelbe-Raum“, freut sich Gerd-Dieter Wehlitz.
„Nein, zu Hause in Eritrea bin ich nie gelaufen“, erzählt der schlanke junge Mann, dessen Familie von der traditionellen Viehzucht lebt. Vor zwei Monaten musste er noch seine erste Deutschprüfung im Integrations-Programm wiederholen. Scheu war er damals, verunsichert und wirkte hilflos. Als Sieger beim Süderelbe-Lauf trat er zwar noch immer ruhig und zurückhaltend auf, aber auch selbstbewusst und gestärkt. „Es ist mein dritter Sieg und mein dritter Pokal, den ich mit in meine Unterkunft bringe“, sagt er nicht ohne Stolz.
Die deutsche Sprache beherrscht er immer noch nicht gut, drückt sich immer noch holprig aus und hat sich doch in den vergangenen zwei Monaten stark verbessert. „Er hat inzwischen einen Job bei einer Zeitarbeitsfirma“, berichtet Gerd-Dieter Wehlitz. „Wir haben organisiert, dass er sonnabends mit anderen zusätzlichen Sprachunterricht erhält. Inzwischen trainiert Brhana viermal in der Woche und Andreas Hühnerberg, Lehrer und professioneller Lauftrainer, hat ein spezielles Trainingsprogramm für ihn erstellt. Jetzt hoffen wir, dass wir eine spezielle Trainingsuhr für ihn auftreiben können, ohne die ja kaum noch ein richtiges Leistungstraining möglich ist.“
Der Kampf um Sekunden ist und bleibt das Herzstück aller Volksläufe. Eine Mutter am Rande des Zieleinlaufes ist äußerst nervös. Isabell Timm schaut nach ihrer Tochter Svea. Und sie hofft und wünscht, dass die 16-Jährige bei den zehn Kilometern als erste der Frauen auf die Zielgerade an der CU-Arena einbiegt. „Wir kommen aus Jork, und bei uns in der Gegend hat Svea in dieser Saison fast alles gewonnen“, sagt die Mutter und fährt zusammen.
Da kommt die erste Läuferin um die Ecke. Es ist Lara Predki, zehn Jahre älter als Svea Timm, sie startet für den Lüneburger SV und macht dort an der Uni ihren Master in Nachhaltiger Wissenschaft. Svea, das ehrgeizige Mädchen aus dem Alten Land, und ihre Mutter dürften sich trösten. Die Siegerin war schier übermächtig, hat in ihrer besten Zeit als Siebenkämpferin mindestens sechsmal in der Woche trainiert.
Dominic Daubengerge vom Triathlon-Team des FC St. Pauli hat den Halbmarathon, der wegen umgestürzter Bäume nur über 20 Kilometer ging, in 1:18:08 Stunden gewonnen. Schnellste Frau war die Hamburgerin Dörte Zimmermann in 1:29:37.
Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Sport