Die Taoist Tai Chi Gesellschaft in Lüneburg und Winsen findet immer mehr Anhänger für die chinesische Entspannungs-Gymnastik

Winsen. Irgendwo, mitten drin im dörflichen Borstel, steht das Haus der Vereine. Nach hinten angeschlossen mit einer etwas betagten Turnhalle. Vor dem Haus ein kurz geschorener Rasen. Und der ist Bühne für eine außergewöhnliche Sportgemeinschaft. Nur, wo ist die Tai-Chi-Gruppe abgeblieben? Auch der Nachbar nebenan, der in der Abendsonne sitzt, kann diese Frage nicht beantworten. "Um acht Uhr kommen die Turnfrauen", ruft er über den Zaun, "aber Tai Chi habe ich hier noch nie gesehen. Was ist das überhaupt?" Etwas Chinesisches, lautet die Antwort, das kommt jetzt auch nach Borstel.

"Das kommt nicht", korrigiert Birgit Kempe, als sich die Gruppe eingefunden hat, "das Chinesische ist schon seit zehn Jahren hier." So lange schon suchen die Teilnehmer bei dieser ur-chinesischen Gymnastik Entspannung und Wohlbefinden. Viele aus der Gruppe, die sich jeden Dienstag von 19.30 bis 21.30 Uhr im oder vor dem Haus der Vereine am Turnhallenweg einfinden, sind von Anfang an dabei.

Aber es ist noch häufig die Verwunderung und Neugierde, die Menschen aus unserer so gegensätzlichen Sportkultur auf Tai Chi aufmerksam werden lässt. "Als Jogger im Hamburger Stadtpark habe ich manchmal angehalten und zugeschaut. Da stand ein junger Mann unter einem der ausladenden Bäume und hat diese seltsamen Bewegungen gemacht", schildert Claus Lorenzen seinen ersten Kontakt mit dieser Art von Gymnastik. "Ich bin Hobby-Radfahrer und auch Marathon gelaufen. Da will man schnell und stark sein und besser als der andere. Aber dieser junge Mann unter dem Baum bewegte sich im Zeitlupentempo. Irgendwie war diese Ruhe, diese Harmonie zu spüren."

Irgendwann, als den Ausdauersportler, der für den Internet-Auftritt der Edeka-Gruppe verantwortlich zeichnet, längst Rücken- und Nackenschmerzen plagten, las Claus Lorenzen eine Einladung zu einer Tai-Chi-Nacht in Lüneburg. Das ist drei Jahre her. Seitdem macht der Vater von zwei Söhnen jeden Dienstag auf dem Heimweg vom Büro in Hamburg zur Familie in Vierhöfen einen Stopp im Winsener Ortsteil Borstel. Und wenn er sich einreiht in die Gemeinschaft von Frauen und Männern, schiebt er mit den ersten sanften Bewegungen alle Hektik und Stress für zwei Stunden aus seinem Leben.

Der Legende nach hat ein chinesischer Mönch den Kampf einer Schlange mit einem Kranich verfolgt und daraus die ersten Übungen entwickelt. Seitdem sind mehr als 1000 Jahre vergangen, selbst die großen Lehrmeister streben noch immer nach Vollendung. "Dieses ständige Bemühen, die Konzentration, alles andere zurücklassen, das ist entscheidend beim Tai Chi", erläutert Birgit Kempe, PR-Managerin der Gesellschaft, die wie alle anderen ehrenamtlich arbeitet. "Man kann noch so viele Jahre dabei sein, fertig wird man nie. Auch das längste Leben reicht nicht, um im Tai Chi perfekt zu werden."

Es sind insgesamt 108 Bewegungselemente, die ineinander greifen und in einem Fluss durchgeführt werden. Dabei haben die einzelnen Übungen oft so prosaische Namen wie "junge Schöne wirft das Webschiffchen" oder "der goldene Hahn steht auf einem Bein".

In den Übungsstunden spielen die traditionellen Bezeichnungen kaum eine Rolle. "Das würde nur ablenken", sagt Birgit Kempe, "in der Gruppe orientiert man sich vor allem am Nachbarn. Man lernt mit den Augen."

Das hat den Vorteil, dass auch Anfänger in der Gruppe integriert werden können. Oksana Riecken ist erst seit einigen Wochen dabei. Sie hat sich mittendrin eingeordnet, orientiert sich nach rechts, schaut nach links, dreht sich falsch, lächelt erschrocken, und ist bei der nächsten Übung wieder im Gleichklang mit den anderen.

Die Frauen und Männer vollführen ihre Übungen in aller Stille. Nur hin und wieder ist leise und sanft, wie bei einer Meditation, die Stimme von Kerstin Gummelt zu vernehmen. "Langsamer, keine Eile. Die rechte Fußspitze hoch." Die erfahrene Instruktorin, wie die Übungsleiter genannt werden, gehört zu den Gründungsmitgliedern der Taoist Tai Chi Gesellschaft Deutschland. Sie ist die Vorsitzende der 350 Mitglieder zählenden deutschen Gesellschaft mit Gemeinschaften in Frankfurt, Kassel und Lüneburg. Von dem Zentrum an der Soltauer Straße werden Gruppen in Barskamp, Bleckede und in Borstel betreut. "Taoist Tai Chi ist eine chinesische Form der Bewegungsmeditation, um Geist und Körper gesund zu halten", sagt die Vorsitzende Kerstin Gummelt, "die Übungen bringen auch Linderung und Besserung bei körperlichen Beschwerden und Erkrankungen."

Was die Taoist-Gesellschaft, die ihr Zentrum in Kanada hat, auch auszeichnet, macht Claus Lorenzen klar: "Wer hier dabei ist, zeigt seine Fürsorge, die Mitglieder achten aufeinander, helfen sich in der Gemeinschaft - das ist doch so rar geworden in unserer hektischen Gesellschaft. Und das gefällt mir."