Mahir Oral arbeitet mit Kindern der Stadtteilschule. Türkischer Generalkonsul zu Gast

Wilhelmsburg. Die alte Sporthalle an der Rotenhäuser Straße 28, mitten im Herzen von Wilhelmsburg, gehörte in den guten, längst vergangenen Zeiten des Amateurboxsports zum Trainings- und Veranstaltungszentrum der Faustkämpfer des WSV 19. Das ist lange vorbei. Seit einem Jahr wird dort wieder trainiert und zugeschlagen. Es sind Mädchen und Jungen der Wilhelmsburger Stadtteilschule, die an einer viel beachteten und hoch gelobten Initiative teilnehmen. Die nennt sich "Box-Out" und im Untertitel "Gewaltprävention an Schulen". In seiner Zielsetzung hat Christian Görisch, Initiator und Geschäftsführer von Box-Out, festgeschrieben: "Wir helfen Jugendlichen durch olympisches Boxen, Fairness sowie Regeln und Respekt zu lernen."

Die Mädchen und Jungen in der Halle haben sich die dicken, blauen Boxhandschuhe übergezogen. Paarweise stehen sie sich mit erhobenen Fäusten gegenüber. Nazire ist 14 Jahre alt, stammt aus Albanien und wirkt groß und kräftig. Abdul, der mit genauem Namen Abdussamed Özdemir heißt, ist ein Jahr jünger und ein Schlitzohr. Nazire hält die Fäuste nach unten. Sie ist bemüht, Abdul nicht im Gesicht zu treffen, wie es zu den festen Regeln gehört. Aber ihr Trainingspartner nutzt aus, dass sie dadurch die Deckung vernachlässigt. Der Junge schlägt zu, trifft das Mädchen am Oberarm und muss sich auch schon in Sicherheit bringen. Denn der Schmerz hat Nazire böse gemacht. "Wir sind doch hier beim Boxen", versucht sich Abdul mit Worten zu verteidigen. "Aber wir sollen doch nicht hart zuschlagen", schimpft Nazire, "das sagt uns der Trainer doch immer wieder."

Was Mahir Oral von den Kindern einfordert, befolgen sie auch. Meistens jedenfalls. Der schlanke durchtrainierte Mann von 33 Jahren ist ein Vorbild für die Schüler. Sie bewundern ihn. Die meisten der Kinder haben sich im Internet Kämpfe des Ex-Europameisters angesehen. Und doch spüren sie, er ist einer von ihnen. Auch Mahir Oral hat als kleiner Junge in Finkenwerder durch das Boxtraining bei Mecit Cetinkaya wichtige Maßstäbe fürs Leben gelernt. Als Profiboxer gewann er, trotz mancher Rückschläge, 28 seiner 34 Kämpfe. Als ehemaliger Europameister ist er vor allem auch in der Türkei bekannt und populär.

Das ist ein Grund, warum zu dem Boxprojekt mit Wilhelmsburger Schulkindern hoher Besuch erwartet wird. Der türkische Generalkonsul Devtim Öztürk und Konsul Berati Alver sind gekommen. "Mahir Oral und die Herren von Box-Out waren bei uns", sagt der Generalkonsul, "ihr Projekt hat uns begeistert. Die Kinder haben Spaß, lachen viel. Aber sie lernen Disziplin und Respekt und sich im Leben durchzusetzen."

Auffallend: Mehr Mädchen als Jungen sind beim Boxunterricht dabei. Das ist es auch, worauf Jörg Kallmeyer, Leiter der Stadtteilschule, besonders stolz ist. "Es hat mich selbst überrascht", sagt der Mann, der vor 20 Jahren als Referendar aus Dortmund an die Schule nach Wilhelmsburg kam und heute für den Lernbetrieb mit 150 Lehrern und mehr als 1000 Schülern verantwortlich ist. "Ich finde das ganz toll, es ist doch ein Signal für das wachsende Selbstbewusstsein bei den Mädchen." Von der Kooperation mit Box-Out war der Schulleiter sofort begeistert. "Weil die gleichen Tugenden transportiert werden, für die auch wir uns einsetzen. Fleiß, Respekt, Erfahrung, dass man nicht gleich aufgeben darf, und dass es ein tolles Gefühl ist, wenn man etwas erreicht." Dabei hat der Lehrer gerade in Wilhelmsburg eines immer wieder erfahren: "Wir können die tollsten Angebote machen, die nützen alle nichts, wenn es keinen persönlichen Kontakt, keine Beziehung zwischen Lehrer und seinen Schülern gibt. Das ist der entscheidende Schlüssel zu allem."

Und diesen Schlüssel hat Profiboxer Mahir Oral. Sie hören ihm zu, wenn er beim Trainings versucht, erst einmal mit Worten ihren Ehrgeiz, ihr Selbstbewusstsein anzustacheln. "Was den Jungen und Mädchen heute am meisten fehlt, ist der Wille, sich zu quälen, um etwas zu erreichen", sagt der ehemalige Europameister. Und er testet dies mit einer altbewährten Methode. "Sie müssen Liegestütze machen", sagt er, "drei Minuten durchhalten. Nach einer Minute fangen sie an, zu jammern. Ich treibe sie an, mache Mut, und sehe dann, wie glücklich sie sind, wenn sie das erste Mal durchgehalten haben."

Wille und Kampfgeist bei den Jugendlichen zu wecken, ist ein Aspekt. Der Respekt vor dem anderen, den fairen Umgang miteinander, das ist der andere Schwerpunkt. "Wir von Box-Out tun etwas für die Kinder", sagt Mahir Oral, "nach dem ersten Jahr in Wilhelmsburg habe ich gesehen, wie Rashell und Nesri, meine Jüngsten, selbstbewusst geworden sind und wie auch die Jungen lernen, was Respekt und Fairness ist."