Hamburg. „Freitag Existenzangst, Montag Schlange bis zur Straße“, resümiert Stephan Dirks, Geschäftsführer des Fahrradcenter Harburg. Noch zu Beginn der Coronakrise hatte er das Geschäft sechs Wochen schließen, die Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken müssen - und das genau zum Start der Hauptsaison für Fahrradhändler. „Normalerweise macht die Branche von Mitte März bis Mitte Mai fast 50 Prozent ihres Jahresumsatzes“, sagt Dirks. „Genau zu Beginn dieser Periode war der Umsatz auf einmal quasi Null.“
Etwas verzögert begann dann in der zweiten Aprilhälfte die Radsaison für 2020. Und corona-bedingt setzte ein regelrechter Boom ein. „Ein Run, um das Dreifache potenziert“, so Dirks. Die Menschen haben in Corona-Zeiten nur begrenzte Optionen für ihre Freizeitgestaltung, „das kam uns logischerweise zugute“, sagt der Fahrradhändler. Schlagartig gestiegene Kundenzahlen hätten dann zu einer starken Überlastungssituation geführt. „Monatelang hat kein Mitarbeiter eine Sekunde Pause gemacht. Es wurde eigentlich nicht mehr gegessen und wenn, dann im Verkaufsgespräch vom Brötchen abgebissen – und dann kam auch noch die Maskenpflicht“, sagt Dirks.
Hamburger Fahrradhändler: Coronakrise beschleunigt Umstieg auf E-Bikes
In dieser Zeit verzeichnete das Unternehmen „Rekordkrankenstände“ bei den Mitarbeitern, so Dirks – da kamen Corona-Risikofälle und Burnout-Erscheinungen zusammen. „Man liest immer: ‚Die Fahrradhändler haben einen Boom.‘ Aber die haben dafür auch einen hohen Preis bezahlt in dieser Saison“, sagt der Geschäftsführer. Die Coronakrise macht sich auch anders bemerkbar: Sie habe etwa den Umstieg auf und die Nutzung von E-Bikes stark beschleunigt.
Das freue viele Händler, sagt Dirks: „Wir sind angetreten, um die Leute aus dem Auto zu holen und aufs Fahrrad zu bringen. Jetzt findet das statt und wir sind alle begeistert.“ Das motiviere zum Weitermachen. Aber so eine Situation wie jetzt habe die Branche noch nie erlebt. Zudem werde die Technik am Rad immer komplexer. Dafür müssen Mitarbeiter je nach Anbieter entsprechend geschult werden.
Fahrradhändler in Harburg: Es fehlt an Personal und Material
„Mehr und mehr so, wie man es von der Kfz-Branche kennt: Ein BMW-Händler kann gar nicht immer alle Arbeiten an einem Mercedes machen“, so Dirks. Obwohl sein Harburger Betrieb regelmäßig selbst ausbildet, reichen die Kapazitäten nicht, um dem aktuellen Andrang gerecht zu werden. Im Moment bietet das Fahrradcenter keine Fremdreparaturen – also Arbeiten an Rädern, die das Center nicht selbst vertreibt – mehr an. Der Telefonservice wurde vorübergehend ganz eingestellt. Und das, obwohl das Fahrradcenter zu August acht neue Mitarbeiter eingestellt hat und mit Vermittlungsprämien nach weiteren Zweiradmechatronikern sucht.
Auch die Materialversorgung gestalte sich im Moment schwierig, da überall große Nachfrage herrsche. Bei vielen Kunden entstehe trotzdem Unmut, wenn man Reparaturaufträge ablehnt. Erst seit ein paar Wochen ist die Lage entspannter, die Saison läuft langsam aus. „Das ist gut, weil wir uns für die nächste Saison entsprechend aufstellen können“, sagt Dirks.
Im Landkreis Harburg sind Wohnwagen gefragt
Auch im Landkreis ist das hohe Kundenaufkommen nach dem Corona-Lockdown für manche Branchen Fluch und Segen zugleich. Das Freizeit-Center Albrecht in Winsen, das Reisemobile, Wohnwagen und Campingzubehör verkauft, musste zwar zu Beginn der Pandemie für einige Wochen schließen. „Aber als wir wieder geöffnet hatten, sind die Leute hier nur so reingerannt“, sagt Geschäftsführer Stefan Albrecht.
Unter den Kunden waren ungewöhnlich viele junge Menschen. „Die machen sonst zweimal im Jahr richtig Urlaub, der ihnen diesmal gestrichen wurde. Das Geld haben sie jetzt in einen Wohnwagen oder ein Reisemobil investiert, um damit in Deutschland Urlaub zu machen.“ Da viele dieser neuen Kunden keine oder kaum Campingerfahrung mitbrachten, hätten die Verkäufer sich besonders viel Zeit für die Beratung genommen. Aus diesem Grund hat auch Albrecht zwei zusätzliche Verkäufer eingestellt.
Die Corona-Zeit geht nicht spurlos an den Harburger Händlern vorbei
Dennoch sei die Corona-Zeit nicht spurlos an seinem Geschäft vorbeigegangen, sagt der Geschäftsführer. „Die Nachfrage ist sehr hoch, aber die Hersteller können gar nicht so viel produzieren.“ Die meisten Reisemobile, die das Freizeit-Center verkauft, basieren auf dem Modell Fiat Ducato. In Italien aber ist die Produktion ins Stocken geraten, zudem werden ähnlich wie in der Fahrradbranche notwendige Teile nicht in ausreichender Menge geliefert. Die Kunden müssen daher momentan entweder eines der in Winsen vorrätigen Fahrzeuge kaufen oder bis zum kommenden April auf ihr bestelltes Wunschmobil warten. Deshalb kann Stefan Albrecht noch nicht absehen, wie gut dieses Geschäftsjahr am Ende wirklich laufen wird. „Im Moment sieht es sehr gut aus. Aber es ist auch möglich, dass wir im November keine Fahrzeuge mehr haben und nichts mehr verkaufen können.“
Anstelle einer Reise haben viele Menschen in diesem Sommer auch in ihren Garten investiert. „Für uns war es ein Glück, dass Urlaub und viele Veranstaltungen gestrichen waren. Wir haben auch gemerkt, dass sich viele Familien neu mit ihrem Garten beschäftigt haben und besondere Beratung wünschten“, sagt Carsten Matthies, Geschäftsführer im Gartencenter Matthies in Emmelndorf. Besonders gefragt seien Hochbeete, Pflanzen zur Selbstanzucht und Saatgut gewesen.
Rindenmulch, Erde und Tomatenpflanzen seien sogar zeitweise knapp geworden. Durch die starke Nachfrage, konnte das Gartencenter den Verlust aus der 14-tägigen Schließung wiedergutmachen. Dazu beigetragen hat auch die lange geplante Eröffnung des vergrößerten Gartencenters am neuen Standort Emmelndorf. Wie es jedoch im kommenden Jahr weitergehen wird, wagt Matthies nicht zu prognostizieren. „Es war wahrscheinlich ein Ausnahmejahr für die Branche. Aber ich denke, dass auch einiges vom Umdenken der Menschen bleiben wird.“
Wirtschaftsverein: Von Normalität kann weiter keine Rede sein
Nach Einschätzung des Wirtschaftsvereins für den Hamburger Süden müssen sich die meisten Firmen organisatorisch immer noch mit neuen Herausforderungen beschäftigen, die Coronakrise erfordere Anpassungen der Geschäftsmodelle. „Von einer ‚Normalität‘ kann sicherlich noch nicht wieder gesprochen werden, vielmehr von einer ‚neuen Realität‘. Allerdings kann man glücklicherweise wohl sagen, dass sich die wirtschaftliche Situation im Vergleich zu den Lockdown-Monaten im zweiten Quartal verbessert hat“, sagt der stellvertretende Vorsitzende Arnold Mergell.
Der Verein vertritt um die 270 Mitgliedsunternehmen mit rund 40.000 Beschäftigten im Süden Hamburgs. „Besonders betroffen sind nach wie vor die Bereiche Tourismus, Gastronomie und jegliche Form von Veranstaltungen mit Personenansammlungen. In Harburg kommt hinzu, dass wir mit einem starken industriellen Anteil auch in den Bereichen Luftfahrt und zum Teil auch Automobil immer noch starke Auswirkungen spüren“, sagt Mergell. Relativ stabil hingegen verlaufe es in den Bereichen Nahrungsmittel und in der Bauindustrie.
„Bei den Dienstleistern ist die Situation heterogen und sehr vom Geschäftsmodell abhängig“, so Mergell. Im Hinblick auf die kommenden Monate sagt er: „Von der Stadt und somit von der Politik wünschen wir uns vor allem einen weiterhin verhältnismäßigen Umgang mit der Pandemie. Dazu gehört sicherlich der Ausschluss eines zweiten Lockdowns.“
IHK: Landkreis Harburg braucht Planungssicherheit
In Niedersachsen können auch die Möbelbranche, der Lebensmitteleinzelhandel, Wirtschaftsberater, IT-Dienstleister und Lieferdienste ein Auftragsplus verzeichnen. Auch Industriebetriebe, die Sicherheitsabstände in der Produktion gut einhalten können, konnten recht schnell wieder die Produktion hochfahren, wie Michael Zeinert berichtet. Er ist Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Lüneburg-Wolfsburg, zu der auch der Landkreis Harburg zählt.
Er sagt aber auch: „Aktuell bezeichnen 59 Prozent der Unternehmen im Bezirk der IHKLW ihre Geschäftslage als schlecht, insbesondere die Nachfrage im Inland ist bei rund 91 Prozent der Befragten zurückgegangen. Besorgniserregens ist, dass 28 Prozent der Befragten davon ausgehen, in den nächsten zwölf Monaten Personal abzubauen“. Um die Wirtschaft im Landkreis wieder anzukurbeln, hält Zeinert Planungssicherheit für wichtig.
Einer IHK-Umfrage zufolge rechnen 45 Prozent der Unternehmen erst im Laufe des kommenden Jahres mit einer Rückkehr zur Normalität. Dazu merkt Zeinert an: „Ich würde mich freuen, wenn es früher soweit ist, aber das hängt natürlich vom weiteren Verlauf der Pandemie ab und sehr wesentlich auch davon, ob es einen weiteren Lockdown geben wird. Eine verlässliche Prognose ist vor diesem Hintergrund kaum zu liefern.“
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