Salzhausen/Winsen. Viele Menschen, deren Eltern, Partner oder Geschwister Pflege benötigen, müssen sich durch die Corona-Pandemie auf eine ganz neue Situation einstellen. Da das professionelle Helfersystem nur noch eingeschränkt funktioniert, übernehmen sie nun verstärkt die Pflege zu Hause. Durch die plötzliche Umstellung und die Angst vor einer Infektion der hoch betagten oder geschwächten Familienmitglieder kommen in diesen Wochen zahlreiche Fragen auf.
Welche praktische und finanzielle Unterstützung kann ich beantragen? Wo gibt es kurzfristige Entlastung? Und wie kann ich selbst meine Mutter oder meinen Partner pflegen? Mit solchen und ähnlichen Anliegen wenden sich Angehörige an Antje Ruge und ihre Kolleginnen. Die 42-Jährige ist Pflegeberaterin und zudem Pflegekoordinatorin bei den Johannitern im Landkreis Harburg. Etwa zehn Anrufe gehen zurzeit an einem Tag ein. Montags – nach einem anstrengendem Wochenende – sind es oft noch mehr.
„Die Nachfrage hat deutlich zugenommen“, sagt Antje Ruge. Die Anrufer erkundigen sich zum Beispiel nach Möglichkeiten der Tagespflege, Unterstützung durch Haushaltshilfen und bei Arztbesuchen. „Unsere Telefonate dauern jetzt oft länger als zuvor, teilweise dienen die Gespräche auch eher der Seelsorge. Wir versuchen dann, die Menschen aufzufangen und wieder aufzubauen.“
Privat organisierte Hilfskräfte fallen weg
Durch den Corona-Lockdown haben nicht nur Tagespflegeeinrichtungen wie die der Johanniter in Salzhausen seit Mitte März geschlossen. Auch die Aufnahme in ein Heim oder eine Kurzzeitpflegeeinrichtung ist schwieriger geworden. Zudem fallen zahlreiche privat organisierte Hilfskräfte weg, die häufig aus Polen kommen und in den vergangenen Wochen die Grenze nicht mehr überqueren durften. Aus Angst vor Ansteckung hätten auch viele Angehörige den ambulanten Pflegediensten abgesagt, sagt Antje Ruge. „Sie übernehmen jetzt hundert Prozent der Aufgaben selbst. Das führt häufiger zu Überforderung.“
Doch es ist nicht nur die neu übernommene oder zusätzliche Pflege, die die Angehörigen belasten oder überfordern kann. Hinzu kommt die Sorge um ihre betagten Eltern oder Partner. Viele Ratsuchende sind verunsichert, wie gefährlich das Coronavirus den Pflegebedürftigen werden kann. Vor allem das Besuchsverbot für ältere Menschen habe dazu beigetragen, sagt Antje Ruge. „Die emotionale Belastung ist sehr groß. Viele fühlen sich nicht richtig aufgehoben.“
Seit Ende Februar gebe es immer wieder alarmierende Schlagzeilen über das Virus, die Erkrankung und das Thema Risikogruppe. Durch ihr Alter gehörten die Menschen, die die Pflegeberater betreuen, zu der Gruppe, die besonders geschützt werden muss. Doch zugleich hätten sie und ihre Familien das Gefühl, nicht ausreichend geschützt zu werden.
Beratung per Telefon
In normalen Zeiten beraten die examinierte Krankenschwester und ihre Kolleginnen per Telefon und machen darüber hinaus alle drei bis sechs Monate Hausbesuche bei ihren Pflegekunden. Nun läuft alles kontaktlos und ohne persönliche Begegnung. Das sei mit den Stammkunden gut machbar, sagt Antje Ruge. „Die begleiten wir seit mehreren Jahren, sie haben Vertrauen zu uns und wir kennen ihr Zuhause und die Pflegesituation. Bei neuen Kunden müssen wir erst eine ganz neue Grundlage schaffen, den Pflegebedarf bestimmen, Anträge ausfüllen. Das ist viel schwieriger per Telefon.“
Unter den Anrufern sind in den vergangenen Wochen viele erwachsene Kinder von Pflegebedürftigen gewesen. Für sie sind auch die Online-Kurse geeignet, die die Johanniter seit Jahresbeginn anbieten. Der sogenannte Pflegecoach, ein kostenloses Programm des bundesweiten Verbands, besteht aus mehreren Modulen.
In diesen erfahren die Teilnehmer, wie häusliche Pflege gelingt, wie sie im Alltag organisiert werden kann, auf welche Leistungen Anspruch besteht, wie Pflegende mit Belastungen umgehen können und welche Möglichkeiten der Unterstützung es gibt. Die Lerneinheiten können unabhängig von Zeit und Ort genutzt und wiederholt werden.
Keine Konkurrenz zu Vor-Ort-Angeboten
Bundesweit werde dieses Angebot seit dem Start immer stärker genutzt, sagt Larissa Pieper aus dem Vorstandsbereich Innovationsmanagement und Strategische Kooperationen der Johanniter. „Insbesondere seit dem vorläufigen Höhepunkt der Corona-Krise, das heißt seit Anfang März, steigen sowohl die Registrierungen für die Plattform als auch die tatsächlichen Kursbuchungen noch einmal stärker an.“
Der Pflegecoach sei keine Konkurrenz zu Vor-Ort-Angeboten, betont sie. Wenn das Online-Lernangebot nicht ausreiche, könnten auch Präsenz-Pflegekurse besucht werden. „Gerade jetzt in Zeiten von Corona, wo persönliche Beratung oder Betreuung nur sehr eingeschränkt stattfinden können, ist ein digitales Angebot wie der Pflegecoach ein wichtiger Baustein. Damit können wir viele Menschen unterstützen, sodass sie bestmöglich eine häusliche Pflegesituation gestalten oder sich mit dem Thema auseinandersetzten können.“
Wenn in Salzhausen in dieser Zeit das Telefon klingelt und sich ein Angehöriger zum ersten Mal meldet, weist Antje Ruge allerdings nicht direkt auf den Pflegecoach hin. „Das ist eine ungünstige Situation, um auf ein Online-Angebot aufmerksam zu machen“, sagt sie. „Da ruft uns jemand an, der am Ende seiner Kräfte ist und erst einmal persönliche Beratung und Begleitung braucht.“
Wochen der Ausnahmesituation
Nach Wochen der Ausnahmesituation kommen auch in der Pflege die ersten Lockerungen. Am Montag konnten die ersten pflegebedürftigen Menschen in die Tagespflege der Johanniter zurückkehren. Normalerweise werden im Gesundheitszentrum in Salzhausen bis zu 20 ältere Menschen tagsüber betreut und gepflegt. Nun sind es erst einmal deutlich weniger: Zunächst wurden nur acht Plätze eingerichtet.
Die Tische wurden so gestellt, dass der Mindestabstand eingehalten wird, in den Ruheräumen dürfen sich höchstens zwei Menschen aufhalten. Auch der Fahrdienst befördert maximal zwei Kunden zugleich, alle müssen einen Mund-Nasen-Schutz tragen.
Pflegekoordinatorin Antje Ruge ist froh, dass die ersten Schritte zurück zur Normalität möglich sind. „Als wir die Tagespflege schließen mussten, was das ein sehr trauriger Moment. Wir und die betreuten Menschen wussten ja nicht, ob wir uns wiedersehen. Das langsam wieder aufzubauen, ist auch für uns sehr schön.“
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