Exklusive Zahlen

Verfassungsschutz beobachtet 70 „Reichsbürger“ in Harburg

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Jörg Riefenstahl
Spezialkräfte der Polizei suchen auf dem Grundstück des Neu Wulmstorfer Reichsbürgers Uwe W. nach Waffen.

Spezialkräfte der Polizei suchen auf dem Grundstück des Neu Wulmstorfer Reichsbürgers Uwe W. nach Waffen.

Foto: JOTO

Verfassungsschutz nimmt Szene im Landkreis ins Visier. SPD-Politikerin warnt vor Verbindungen zu Rechtsextremen und der AfD.

Winsen.  Rund 70 Menschen im Landkreis Harburg verstehen sich als Reichsbürger und werden vom Verfassungsschutz beobachtet. Das geht aus der Antwort auf eine Anfrage des Hamburger Abendblattes beim niedersächsischen Verfassungsschutz hervor. Die Anzahl ergibt sich aus intensivierten Beobachtungen der Sicherheitsbehörden.

Für die auf den ersten Blick überraschend hohe Anzahl an Reichsbürgern im Landkreis hat der Verfassungsschutz eine einfache Erklärung: Erst seit mehrere Gewalttaten eindeutig der Reichsbürgerszene zuzurechnen waren – etwa, als ein 49 Jahre alter Reichsbürger im Oktober 2016 in Bayern einen Polizisten erschoss – beobachtet und kategorisiert der niedersächsische Verfassungsschutz so genannte Reichsbürger und Selbstverwalter.

Im Landkreis Harburg hatten Reichsbürger in der Gemeinde Wulfsen Ende 2016 Schlagzeilen gemacht, als sie versucht hatten, Mitbürger in der 1700-Einwohner-Gemeinde für ihre staatsfeindliche Ideologie zu begeistern. Zwei LKA-Beamte aus Hamburg missionierten als Reichsbürger fleißig mit – einer von ihnen war ein pensionierter Polizist (wir berichteten).

Der Staatsschutz ermittelte – und gab das Verfahren nach Angaben eines Sprechers der Polizeiinspektion Buchholz kurz darauf an die Staatsanwaltschaft Lüneburg ab. Unklar ist, was daraus geworden ist: Weder in Lüneburg noch bei der Staatsanwaltschaft Hamburg ist etwas über diesbezügliche Ermittlungsverfahren bekannt, wie Recherchen des Abendblattes ergaben.

Polizei beschlagnahmtGewehre und Revolver

Viele erinnern sich noch sehr gut an den Fall, als Spezialkräfte der Polizei die Wohnung des 67 Jahre alten Reichsbürgers Uwe W. in Neu Wulmstorf durchsuchten. Weil sich der Mann konsequent weigerte, seine in einem schmucklosen Einfamilienhaus gehorteten Schusswaffen freiwillig abzugeben, beschlagnahmten die Beamten bei ihm Pistolen, Gewehre und Revolver.

Das ist zwei Jahre her. „Wir haben vor anderthalb Jahren begonnen, das Feld konsequent aufzuhellen“, teilte der Sprecher des niedersächsischen Verfassungsschutzes, Frank Rasche, dem Abendblatt mit. Vorher habe man lediglich „Einzeltäter“ ins Visier genommen – und sie in keinen Zusammenhang gestellt. Das sei auch der Grund, warum es keine Vergleichszahlen über Reichsbürger aus den Vorjahren gibt.

Die zunächst deutlich angestiegene Anzahl an Reichsbürgern begründe sich auch in einer intensivierten Bearbeitung des Phänomens: Zunächst würden alle Personen, die im Zusammenhang mit reichsbürgertypischen Argumentationen oder Agitationen aufgefallen sind, von der Behörde erfasst. Dazu arbeitet der Verfassungsschutz eng mit den Staatsschutzdienststellen der Polizei und dem Landeskriminalamt Niedersachsen zusammen. Auch Meldungen verschiedener Bundes-, Landes- und Kommunalbehörden fließen in die Betrachtungen ein.

Die Bewertung der Personen erfolge im Einzelfall durch die hiesige Verfassungsschutzbehörde. „Eine bestimmte räumliche Konzentration der Aktivitäten von Reichsbürgern in bestimmten Orten im Landkreis Harburg ist zurzeit nicht festzustellen“, so der Verfassungsschützer. In Niedersachsen insgesamt rechnet die Behörde aktuell mit rund 1400 Personen, die direkt oder indirekt der Reichsbürgerszene zuzuordnen seien.

Es gebe ein extremistisches Personenpotenzial im „unteren dreistelligen Bereich“ für Niedersachsen. Es handele sich um Personen, die im erheblichen Maße im Zusammenhang mit der „Reichsbürgerideologie“ aufgefallen sind – etwa durch das Versenden von Schriftstücken an mehrere Empfänger. Oder durch Straftaten wie Beleidigung, Belästigung, Bedrohung, Betrug, Urkundenfälschung oder Widerstandshandlungen und Gewaltdelikte.

Darunter sind laut Verfassungsschutz elf Personen aus dem Bereich Harburg. Bei einer Person gebe es „direkte Bezüge zum Rechtsextremismus“. Zwei weitere Personen, die dem Feld der Reichsbürger und Selbstverwalter zugeordnet werden, seien „im Besitz waffenrechtlicher Erlaubnisse“, so der Verfassungsschützer.

Reichsbürger müssen Waffenscheine abgeben

Sechs weitere Reichsbürger im Landkreis Harburg waren in der Vergangenheit ebenfalls im Besitz von Waffenscheinen. Sie wurden ihnen mittlerweile von der Waffenbehörde entzogen. Zudem wurden Waffenverbote ausgesprochen und in einigen Fällen Waffen und Erlaubnisse freiwillig zurückgegeben.

Gleichwohl hat der niedersächsische Verfassungsschutz insbesondere in den beiden vergangen Jahren eine „deutliche Zunahme von Aktivitäten“ festgestellt, die der äußerst heterogenen Reichsbürger-Bewegung zugerechnet werden. Hierbei handele es sich jedoch „größtenteils um Personen, die schon seit längerem der Reichsbürger-Szene zuzuordnen sind“, heißt es. Mittelfristig sei mit einer Verringerung der Gesamtanzahl zu rechnen. Wie kommt der Verfassungsschutz zu der Einschätzung?

Es seien einige dabei, die sich im Internet nur mal ein Formular herunterladen – etwa, „um sich der Bezahlung von Strafmandaten zu entziehen oder der Steuerlast zu entledigen“, betont Rasche. Zudem führen offenbar aufklärende Presseberichte über Reichsbürger vermehrt dazu, dass Trittbrettfaher zunehmend abgeschreckt werden und der Szene den Rücken kehren.

Allgemeine Äußerungen über gewalttätige Ausrichtungen von Reichsbürgern im Landkreis lassen sich laut niedersächsischem Verfassungsschutz nicht treffen. Dennoch warnt die SPD-Kreistagsabgeordnete Ursula Caberta vehement davor, die Reichsbürgerszene im Landkreis Harburg zu unterschätzen. In Wulfsen hätten Reichsbürger versucht, ausgerechnet sie – als Sozialdemokratin – von ihrer rechtsradikalen Ideologie zu überzeugen. „Reichsbürger und Identitäre gehören zusammen. Beide Gruppen wollen den demokratischen Staat abschaffen. Ihre Verbindung ist die gemeinsame rechtsradikale Ideologie – auch wenn diese bei den Reichsbürgern etwas naiver klingt“, sagt Caberta.

Das Internet spiele eine wesentliche Rolle für die Vernetzung und bei der Verbreitung der menschenverachtenden Ideologie. „In Postings wird gegen Flüchtlinge und Nichtdeutsche gehetzt. Da setzt sich etwas in den Köpfen fest“, warnt die Politikerin. Missliebige und Menschen anderer Meinung würden in den einschlägigen Diskussionsforen sofort rausgeschmissen.

Dialog? Fehlanzeige. Den staatlichen Organen wirft Caberta, vor, dass sie Reichsbürger und die Identitäre Bewegung bei ihren Beobachtungen noch zu sehr trennten. „Man muss das Phänomen übergreifend betrachten. Auch die AfD ist in Teilen ein Ergebnis dieser staatsfeindlichen Bewegungen“, sagt sie.

Hinweise auf Verbindungenzur AfD-Jugend

Erkenntnisse zu Verbindungen von Reichsbürgern zur AfD oder zur rechtsextremen Identitären Bewegung liegen der niedersächsischen Verfassungsschutzbehörde zurzeit nicht vor – mit einer Ausnahme: „Im Rahmen der Beobachtung der Identitären Bewegung konnte festgestellt werden, dass es bei Einzelmitgliedern der AfD, außerhalb der Landtagsfraktion, insbesondere bei der AfD-Jugendorganisation Junge Alternative, Hinweise auf Kontakte oder Zugehörigkeiten zur Identitären Bewegung gibt“, teilte Rasche mit.

Diese Kontakte und Zugehörigkeiten zur Identitären Bewegung seien in die „Gesamtbewertung der Jungen Alternative als Beobachtungsobjekt der niedersächsischen Verfassungsschutzbehörde“ eingeflossen.

Reichsbürger

Reichsbürger erkennen die Bundesrepublik Deutschland nicht an. Sie behaupten, dass das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 fortbesteht und lehnen die gültige Rechtsordnung ab.

In Niedersachsen ordnet der Verfassungsschutz 1400 Personen der Reichsbürgerszene zu.

Zur Identitären Bewegung zählen mehrere völkisch orientierte Gruppierungen, die rassistische Konzepte vertreten. Sie sehen die „europäische Kultur“ durch „Islamisierung“ bedroht.

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