Radverkehr

Was Harburg von Göttingen lernen kann

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Rolf Zamponi
Erste Kreisrätin Christel Wemheuer (Grüne) mit Lastenfahrrad

Erste Kreisrätin Christel Wemheuer (Grüne) mit Lastenfahrrad

Foto: Rolf Zamponi

Eine Velo-Autobahn, ein millionenschweres Förderprogramm, klare Projektkriterien: Warum Göttingen ein Vorbild für Harburg sein kann.

Die Diskussion dauerte fast ein Jahr und führte schließlich zu – nichts. Eine Veloroute auf der alten Bahntrasse zwischen Buchholz und Lüneburg wird es nicht geben. Der Kreis-Bauausschuss hat sie Mitte September endgültig abgelehnt. Ein mühsamer Prozess, obwohl von vorn herein klar war, dass die Eigentumsverhältnisse kompliziert, sieben Brücken marode und mit dem Ausbau der Lebensraum von Vögeln und Reptilien in Gefahr geraten könnte. Von den Millionenkosten einmal ganz abgesehen. Alles blieb ein Schlenker in der Fahrradstrategie, der die Stabsstelle Kreisentwicklung Zeit und Mühe gekostet hat, weil sie für den Ausschuss die Fakten ermitteln musste.

Solche Umwege ließen sich mit einer abgestimmten Strategie, kurz einem Masterplan, vermeiden. Er enthielte nicht nur eine Bestandsaufnahme des Netzes, das im Kreis bereits abgefahren wurde, sondern sollte zudem den Entwicklungsbedarf auflisten sowie Hinweise für Bau und Sanierung nebst Zeitplan sowie auf zurückgestellte Projekte geben.

Ein solches Papier hatte Alexander Stark, der Leiter der Stabsabteilung, den Anlagen der Bauausschusssitzung als Anregung beigefügt. Es stammt vom Kreis Göttingen, der den Schritt zum Masterplan bereits gegangen ist. Was machen die Südniedersachsen genau und was machen sie besser? Ist ein Masterplan für den Kreis Harburg eine Option? Das Abendblatt hat sich auf den Weg in die Universitätsstadt gemacht.

Knapp 250 Kilometer weiter südlich steht an diesem Vormittag Christel Wemheuer (Grüne) in der Garage der Kreisverwaltung. Zum Fototermin führt sie ein von Verwaltungsmitarbeitern gern genutztes E-Lastenrad vor. Gleich daneben steht ihr Dienstwagen, ein E-Golf. Die studierte Chemie-Ingenieurin und Politologin, seit 2013 Erste Kreisrätin und damit Vizechefin der Verwaltung, hat die Planungen für den Masterplan maßgeblich vorangetrieben. Ende Juni 2017 wurde er einstimmig zusammen mit einer kreiseigenen Förderrichtlinie beschlossen.

Fester Ansprechpartner für neue Wünsche nach Projekten

„Die nächsten fünf, vielleicht sogar bis zehn Jahre werden wir nun mit den einzelnen Baumaßnahmen und anschließenden Arbeiten wie Beschilderungen zu tun haben“, glaubt Wemheuer. Wichtig ist: Sie ist sich sehr sicher, dass es kaum mehr Änderungen geben wird. Sollten diese dennoch von Bürgern oder Bürgermeistern angeregt werden, finden sie einen festen Ansprechpartner. Es ist der beim Kreis angestellte Planer, der zuvor 1500 Kilometer Wege in den beiden seit dem 1. November 2016 zusammengeschlossenen Landkreisen Göttingen und Osterode abgefahren hat. Er kann zwar inzwischen alle Wege per Mausklick aufrufen. Aber er trifft Interessierte auch vor Ort und beurteilt ihre Anliegen.

Der Radverkehr ist einesvon fünf Zukunftsthemen

Tatsächlich hat der Zusammenschluss der Kreise dem Masterplan einen Schub gegeben. Weil die Radwege schon erkundet wurden, avancierte der Radverkehr zu einem der fünf Zukunftsthemen. „Für sie dürfen wir investieren, obwohl wir sonst sparen müssen“, sagt Kreis-Sprecher Ulrich Lottmann.

Die Gemeinden im Kreis haben die sich aus dem Plan ergebenden Vorteile schnell erkannt. „Durch die Planungen wurde vor Ort neu über die eigenen Konzepte nachgedacht“, sagt Wemheuer. Die Gemeinden erhalten zudem eine vom Kreis aufgelegte Förderung. 50 Prozent der Kosten für den Netzausbau, das Schließen von Lücken an den Straßen oder auch für Schilder und Markierungen übernimmt auf Antrag der Kreis.

Als erstes wird Duderstadt, einstmals als westliche Eichsfeld-Metropole direkt an der deutsch-deutschen Grenze gelegen, die Förderung in Anspruch nehmen. Die Stadt erhält bis zu 30.000 Euro aus dem neuen Topf, um ihr Netz besser auszuweisen. „Im kommenden Jahr werden mehr Gemeinden kommen“, ist die Erste Kreisrätin sicher, die seit 1986 der Partei der Grünen angehört. Bis 2020 sind zunächst 1,85 Millionen Euro an Fördermitteln vorgesehen. Dann will man weiter sehen. Eine solche Förderung“, sagt Wemheuer, „gibt es nur in wenigen Landkreisen.“

Sogar bundesweit einmalig ist die vier Kilometer lange, rund vier Meter breite Fahrradautobahn, die bislang vom Göttinger Bahnhof zur Universität führt. Die Strecke soll künftig von Nord nach Süd durch die Stadt und dann weiter bis in die angrenzenden Gemeinden Bovenden und Rosdorf führen. Der Kreis übernimmt die 25 Prozent der Kosten, die sonst Rosdorf hätten tragen müssen. Den Rest zahlt das Land.

Zu den Zielen der Verlängerung gehört dabei, dass Studenten künftig auf günstigere Wohnungen im Landkreis ausweichen und den Campus dennoch gut erreichen können. Dieselbe Aufgabe stellt sich jedoch für Pendler, die ihren Arbeitsplatz ansteuern. Können Fahrradautobahnen also künftig ein wichtiger Bypass für den täglichen Berufsverkehr werden? Der Kreis Göttingen sieht für Studenten offensichtlich Potenzial.

Drei weitere wichtige Radfahr-Themen haben Bürger, Politiker, Experten und Verwaltung in den Plan geschrieben: Ortsdurchfahrten, die Verbindung von Radfahren und öffentlichem Verkehr sowie Schutzstreifen außerorts. „Innerorts muss für jeden Einzelfall entschieden werden“, sagt Wemheuer. Patentlösungen gibt es nicht. Aber die Gefahr durch plötzlich endende Radwege, fehlenden Raum neben den Straßen und abgegrenzt zu Fußgängern ist erkannt und soll abgestellt werden.

Abstellboxen an den wichtigen Bushaltestellen

An Bahnhöfen und Bushaltestellen sind für den Kreis Fahrrad-Abstellboxen obligatorisch. So sind für eine neue Schnellbus-Verbindung von Göttingen nach Duderstadt, die 2019 kommt, schon die besten Standorte zum Parken von Rädern identifiziert. Erst durch die Verbindung des öffentlichen Nahverkehrs mit Fahrradwegen wird diese Mobilität auf dem Land zur Alternative.

Vehement streitet Wemheuer, die die zehn Kilometer von ihrem Wohnort nach Göttingen häufig mit ihrem Pedelec zurücklegt, für die Schutzstreifen außerorts. Zwar hat der Bund von 2012 bis 2014 einen Modellversuch im Kreis Northeim und im fahrradfreundlichsten und zudem fast tisch-ebenen Kreis Grafschaft Bentheim gestartet. Die Auswertung hielt Berlin lange in der Schublade. Vor wenigen Monaten fiel jedoch die Entscheidung, die Streifen nicht in die Straßenverkehrsordnung aufzunehmen.

Votum für Fahrradstreifen außerhalb von Ortschaften

Die beteiligten Kommunen sollen nun die Markierungen wieder entfernen. Das ärgert die Vize-Verwaltungschefin. „Es gibt schließlich genug Straßen mit wenig Verkehr, auf denen diese Streifen Radfahrer schützen würden. Mit den Streifen sparen wir Geld für Radwege und vergeuden keinen Raum.“ Ein Ende der Diskussion will sie jedenfalls nicht akzeptieren.

Mit ihrer Kritik ist Wemheuer nicht allein. Die Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundlicher Kommunen (AGFK), die nach eigenen Angaben 71 Prozent der Bevölkerung in Niedersachsen und Bremen vertritt, zählt mit ihren Städten, Kreisen und Gemeinden zu den Befürwortern. Wemheuer sitzt dort seit Dezember 2017 im Vorstand. Mitglied ist auch der Kreis Harburg,

Keine Frage: Die Göttinger sind von ihrem systematischen Vorgehen überzeugt. „Wir gehen davon aus, dass der Radverkehr immer mehr zunimmt. Schon weil mit den immer häufiger ausgewählten Elektrofahrrädern immer mehr Menschen immer schneller und ohne große Anstrengungen ihr Ziel erreichen können“, sagt Wemheuer. Darauf müssten sich alle Landkreise einstellen und dabei die Fußgänger nicht vergessen: „Wir werden wohl künftig neben den Rad-Schnellwegen auch zwei Meter für Gehwege brauchen.“

Mit Masterplänen lassen sich solche Anforderungen wohl am ehesten schultern, ohne sich im Wust von immer neuen Wünschen zu verzetteln. „Doch es hilft auch“, sagt die Erste Kreisrätin und lächelt, „wenn in den Verwaltungen viele mit Begeisterung Fahrrad fahren.“ So wie sie.

Die Landkreise im Vergleich:

Der Landkreis Göttingen ist der südlichste Landkreis Niedersachsens und umfasst mit der Stadt Göttingen ein Oberzentrum. Er entstand am 1. November 2016 durch die Fusion des bisherigen Landkreises Göttingen mit dem Landkreis Osterode am Harz.

Der neu gebildete Landkreis hat rund 330.000 Einwohner und eine Fläche von 1753 Quadratkilometern. Landrat ist Bernhard Reuter (SPD). Christel Wemheuer (Grüne) ist als Erste Kreisrätin die Vertreterin des Landrats.

Zum Vergleich: Im Landkreis Harburg wohnen auf 1245 Quadratkilometern gut 251.000 Menschen. Der Kreis entstand 1932 aus dem kleineren Kreis Harburg und dem Kreis Winsen.

Kriterien für den Ausbau der Fahrradrouten:

Für den Masterplan gelten Auswahlkriterien, nach denen Projekte im Landkreis Göttingen in die Übersicht der vordringlichen Maßnahmen aufgenommen werden. Eine Auswahl:

Die Maßnahme . . .

– schließt eine wichtige Lücke im Routennetz.

– ist mit einem realistischen Kosten-Nutzen- Verhältnis und zeitnah umsetzbar. Die Planfeststellung oder Baugenehmigung liegt vor.

– wird vom Grundeigentümer beziehungsweise durch Kommune und Baulastträger (Bund, Land, Kreis, Gemeinde) unterstützt.

– optimiert die Radverkehrsverbindung mit einem Knotenpunkt des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV).

– verbessert die Anbindung an Schwerpunkte für Arbeit, Ausbildung und die Versorgung mit Gütern des täglichen Gebrauchs oder an zentrale Bereiche für Naherholung und Tourismus.

– verbessert die Verkehrssicherheit und/oder entschärft einen Unfallschwerpunkt.

– erhöht die touristische Attraktivität eines Radfernweges und trägt zur Verbesserung des fahrradfreundlichen Klimas bei.

– ist bedarfsgerecht. Das wird durch Radverkehrszählungen belegt.

– ist förderfähig. Für sie können Mittel von EU, Bund oder Land eingeworben werden.

– ist in eine Förderrichtlinie eingebunden. Der Landkreis stellt eigene Haushaltsmittel bereit.

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