Wilhelmsburg. Noch vor vier Monaten galt das vermüllte und zugewachsene Gelände im Wilhelmsburger Gewerbegebiet unter den Nachbarn als verloren: Zahlreiche Autowracks, ausgelaufene Batterien und tonnenweise Abfall wurde hier hinterlassen. Jahrelang rottet alles vor sich hin, weil die Betreiber einer Lkw-Werkstatt in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verschwanden und sich seitdem niemand an das Grundstück herantraute. Ausgerechnet an diesem Ort hat jetzt eine Selbstversorger-Initiative ihre Pforten geöffnet.
Statt Schrott stehen auf dem Hof nun zahlreiche bepflanzte Hochbeete und selbst gezimmerte Palettenmöbel. „Minitopia” nennt Stefanie Engelbrecht (40) vom Berliner Verein Alternation ihr Projekt, mit dem sie die Möglichkeiten urbaner Selbstversorgung ausloten möchte. Gemeinsam mit ihrer Partnerin Katrin Schäfer (32) hat sie den „Spielplatz urbaner Selbstversorgung” im März 2017 eröffnet, um herauszufinden, wie man unabhängig von Supermarkt, Geldautomat oder Stromnetz überleben kann.
„Wir müssen nicht verhungern, wenn der Automat kein Geld mehr ausspuckt und die Supermärkte leer sind” ist sich Initiatorin Stefanie Engelbrecht sicher. „Aber wir haben verlernt, wie das geht.“ Ursprünglich kommt sie aus dem Hamburger Stadtteil Sülldorf, hat zuletzt in Berlin gewohnt und ist nun nach Hamburg zurückgekehrt. Bei „Minitopia” geht es darum, das vergessene Wissen wieder zu vermitteln, zu teilen und mit eigenen Händen in die Praxis umzusetzen. „Wir selbst sind keine Experten”, stellt sie klar. „Ich kümmere mich um die Organisation und lerne jeden Tag dazu.” In regelmäßigen Workshops vermitteln Fachleute der „Minitopia”-Gemeinschaft die Grundlagen der Selbstversorgung: Inhalte wie die richtige Bepflanzung von Hochbeeten, Kompostierung oder Kräuterkunde stehen hier auf dem Lehrplan.
In der ehemaligen Lkw-Halle – ursprünglich eine Bäckerei – und auf dem umliegenden Gelände hat das Netzwerk für Selbstversorgung erstmals einen festen Ort gefunden. Gegründet wurde der Verein Alternation im Jahr 2013 als Internet-Plattform: „Es ging darum, ein Netzwerk zu schaffen und zu zeigen, wie viele Menschen in ganz Deutschland und auf der Welt sich mit solchen alternativen Konzepten auseinandersetzen”, erläutert die Projektleiterin. Präsenz zeigten die Konsumkritiker von Alternation bisher durch vorübergehende Veranstaltungen wie Filmvorführungen, Workshops, Exkursionen, Podiums- und Publikumsdiskussionen auf Festivals – und das vor allem in Berlin.
Mit dem dauerhaften Projekt in Wilhelmsburg ist Stefanie Engelbrecht ein großes Risiko eingegangen: „Man kennt uns hier in Hamburg überhaupt nicht. Es war ziemlich größenwahnsinnig Minitopia ohne eine bestehendes Netzwerk zu starten.” Geklappt hat es trotzdem. Mit einer Crowdfunding-Kampagne hat sie gerade innerhalb von vier Wochen über 12.000 Euro gesammelt. Hinzu kommen zahlreiche Materialspenden von Unternehmen wie Holzpaletten, die sich schon hinter dem Gebäude stapeln. „Häufig weiß ich gar nicht, woher die Leute uns kennen. Ich hätte nie gedacht, dass wir so viel Unterstützung bekommen – schon gar nicht, ohne selbst danach zu fragen”, sagt sie. Besonders glücklich ist Stefanie Engelbrecht über das Engagement der vielen Helfer, die jeden Tag mit anpacken: „Ohne sie würde es nicht funktionieren.“
Neben zahlreichen Freiwilligen zeigt auch eine Wilhelmsburger Bildungseinrichtung regelmäßiges Interesse an der Arbeit von Stefanie Engelbrecht und ihrer Crew. So kooperiert die Schule Stübenhofer Weg im Rahmen eines dauerhaften Bauwagenprojektes und für den Werkunterricht mit „Minitopia“. Außerdem haben Schüler das Catering für die Eröffnungsveranstaltung am 7. April übernommen. „Alle waren ziemlich aufgeregt. Es war der erste externe Auftrag für Schüler. Aber sie haben das toll gemacht.“ Der Initiatorin ist es wichtig, dass “Minitopia” als offenes Gemeinschaftsprojekt ohne Dogmen wahrgenommen wird. Im Gegensatz zu vielen Selbstversorgerdörfern, die sich von der Außenwelt abschotten, richtet sich ihr Selbstversorgerhof an alle Hamburger Bürger, die Interesse an der Subsistenzwirtschaft, Urban Gardening und gemeinschaftlichem Handwerken haben.
„Wir wollen hier eine bürgergetragene Stadtfarm schaffen. Unser Ziel ist nicht unbedingt, völlig autonom zu werden, sondern zu experimentieren und herauszufinden, wie weit wir kommen. Wir wollen nicht zurück ins Mittelalter“, sagt Engelbrecht. Es gehe stattdessen um die Suche nach praktikablen Lösungen für den urbanen Raum, wie die aufgestellten Hochbeete, die auch Städtern ohne Garten- und Ackerflächen den Anbau ermöglichen.
An Ideen für die Weiterentwicklung von „Minitopia“ mangelt es Stefanie Engelbrecht nicht. „Dieses Jahr wollen wir noch ein Strohballenhaus bauen und ein Sommerkino veranstalten“, verrät sie. Auf lange Sicht möchte die Querdenkerin sogar eine eigene Energie- und Wasserversorgung etablieren. „Wir wollen ein eigenes Windrad zur Stromerzeugung aufstellen und mit Pumpsystemen experimentieren. Dafür kooperieren wir mit Leuten von der HAW.“ Pflanzenkunde trifft moderne Ingenieurskunst, so ist das Konzept.
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