Otter

Paris-Connection? Wie der Terror nach Tostedt kam

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Bianca Wilkens und Tobias Johanning
Die Flüchtlingsunterkunft in Otter

Die Flüchtlingsunterkunft in Otter

Foto: JOTO

Nach der Festnahme des Marokkaners Redouane S. reagieren Betreuer und Flüchtlingshelfer bestürzt. Eine Spurensuche.

Otter.  Sie können es einfach nicht glauben. Unterstützer aus der Flüchtlingsinitiative in Otter bei Tostedt reagierten bestürzt und äußerst überrascht auf die Festnahme von Redouane S.. Der 24-jährige Marokkaner soll sich als Teil der IS-Gruppe von Abdelhamid Abaaoud an den Anschlägen in Paris beteiligt haben.

Ein Sondereinsatzkommando des Bundeskriminalamts stürmte am Dienstag den ehemaligen Gasthof Gerlach, der als Flüchtlingsunterkunft dient, und verhaftete den 24-jährigen Marokkaner. Ihm wird vorgeworfen, konspirative Wohnungen in der Türkei und in Griechenland, die zur Anschlagsvorbereitung dienten, von Oktober 2014 bis zum Frühjahr 2015 gesichert zu haben.

Zudem soll der Marokkaner in die Planungen und Vorbereitungen für den versuchten Anschlag im Januar in Belgien eingeweiht gewesen sein. Redouane S. ist im Mai 2015 nach Deutschland eingereist. Seitdem soll er in Otter gewohnt haben.

Auch von dort soll er den Kontakt zur Gruppe um Abaaoud gehalten haben. Laut Bundesanwaltschaft habe er sich in Deutschland für weitere Anweisungen bereitgehalten. In das Berliner Attentat sei er nicht verwickelt gewesen.

Als eine Helferin aus dem Unterstützerkreis in Otter von der Festnahme hört, sagt sie spontan gegenüber dem Abendblatt: „Ach, das ist Quatsch. Das kann nicht sein. Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass es sich bei Redouane um einen Islamisten handelt.“

Das Mitglied aus der Flüchtlingsinitiative im Ort hat Redouane S. im Rahmen der ehrenamtlichen Arbeit kennen gelernt und über mehrere Monate einen direkten Draht zu ihm gehabt. Sie und andere Flüchtlingshelfer beschreiben Redouane S. als einen „nicht-religiösen“ Menschen, als Jemanden, der einen „freiheitlichen Lebensstil“ pflegt und gerne tanzt. Er sei ein „großer Anhänger der Popmusik“.

In der Flüchtlingsunterkunft habe er sich sehr bemüht, Deutsch zu lernen. Erst vor wenigen Wochen habe er einer Flüchtlingshelferin stolz seine Anmeldung zum Online-Deutschkursus gezeigt.

Die Helfer sind mit ihm Einkaufen gegangen und haben gemeinsam gekocht. An gemeinschaftlichen Aktionen in der Flüchtlingsunterkunft habe sich Redouane S. ebenso regelmäßig beteiligt. Zuletzt habe der Marokkaner das Weihnachtsfest, das der Unterstützerkreis am 10. Dezember in Otter ausrichtete, mit vorbereitet.

„Er hat ein so sonniges und harmloses Gemüt“, sagte eine Helferin. Sie habe ihn als „ganz, ganz netten Menschen“ kennengelernt. Sie sagte, es würde sie „furchtbar erschüttern“, wenn sich die Tatvorwürfe tatsächlich bestätigten. „Dann hat meine Wahrnehmung total versagt.“

Ein unauffälliges Wesen ist typisch für „Schläfer“

Offenbar ist so ein unauffälliges angepasstes Verhalten jedoch ein typisches Muster eines so genannten Schläfers. „Solche Menschen lassen sich nicht in klassische Schubladen pressen“, sagte Terrorismusexperte Arndt Sinn, Direktor des Zentrums für Europäische und Internationale Strafrechtsstudien in Osnabrück, gegenüber dem Abendblatt.

„Menschen, die sich radikalisiert haben, pflegen einen Lebensstil, mit dem sie nicht auffallen“, sagte Sinn. Das könne bedeuten, dass sich die Terroristen lediglich in Moscheen und Gebetskreisen bewegen und unter sich seien. „Das kann aber auch bedeuten, dass sie sich der westlichen Welt anschließen“, so Sinn.

Auch Peter Dörsam, Bürgermeister der Samtgemeinde Tostedt, sagt: „Er hat sich offensichtlich so perfekt getarnt, dass niemand etwas merken konnte.“ Dennoch dürfe man nun auf keinen Fall alle Flüchtlinge unter Generalverdacht stellen. Bei dem fraktionslosen Bürgermeister klingelte am Donnerstag fast ununterbrochen das Telefon.

Immer wieder fragten Journalisten nach seiner Einschätzung. Immer wieder sagte Dörsam: „Man kann nur dankbar und froh sein, dass sehr gute Polizeiarbeit geleistet wurde und so jemand aus dem Verkehr gezogen wurde.“

Vor Ort müsse jetzt aber die Flüchtlingsarbeit verstärkt werden. Zurzeit kommen die ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer an ihre Grenzen. Fast 100 Flüchtlinge, die eine Duldung oder ein Bleiberecht erhalten habe, sind in den letzten Monaten in eigene Wohnungen umgezogen. Einige fangen im Moment eine Ausbildung an, andere machen zurzeit ihren Führerschein.

Doch wenn sie in ihre eigene Wohnungen ziehen werden sie nicht mehr, anders wie in den Flüchtlingsunterkünften, von einem Sozialarbeiter unterstützt. Diese Lücke füllen zurzeit ehrenamtliche Helfer. Die sind nun aber an ihrer Belastungsgrenze. Deswegen empfehlen die Mitglieder des Jungendausschuss eine eigene Sozialarbeiterstelle in der Samtgemeinde.

Für die Finanzierung dieser Stelle hofft Peter Dörsam auf die Unterstützung vom Land oder dem Bund. „Die Integration ist nicht beendet, wenn die Flüchtlinge in ihre eigene Wohnung ziehen“, sagt der Bürgermeister.

Pastor Gerald Meier, stark engagiert in der Flüchtlingshilfe in Tostedt, zeigte sich schockiert, insbesondere, da sich Redouane S. als „integrationswillig“ gezeigt habe. Meier weiß, dass die Nachricht für die Helfer schwer zu ertragen sei. „Jeder Unterstützer wird sich fragen, ob er zu gutgläubig war“, sagt Meier. Auch Anja Kämpker vom Unterstützerkreis in Tostedt empfindet es „beklemmend“ zu wissen, dass ein mutmaßlicher Terrorhelfer in der Nachbarschaft gewohnt habe.

„Aber wir idealisieren die Flüchtlinge nicht als die besseren Menschen“, sagt sie. „Realistischerweise muss man mit allem rechnen. Auch damit.“ Pastor Gerald Meier appelliert, sich jetzt nicht dazu verleiten zu lassen, jedem Flüchtling mit Misstrauen zu begegnen. „Das wäre der völlig falsche Weg“, betonte Meier.

Die Flüchtlinge in Otter blieben am Donnerstag in ihren Wohnungen. Man wolle lieber nichts Falsches sagen, heißt es in dem ehemaligen Gasthof. Schließlich sind viele der Flüchtlinge gerade vor dem Islamischen Staat aus ihren Heimatländern geflohen.

Da verunsichert es einige, dass direkt unter ihnen mehr als eineinhalb Jahre ein mutmaßliches Mitglied des IS lebte. Auch wenn Redouane S. vom Generalbundesanwalt die Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung Islamischer Staat nur für die Jahre 2014 und 2015 zur Last gelegt wird.

Die Frau aus dem Unterstützerkreis in Otter, die einen engen Draht zu Redouane S. hatte, kündigt an, trotz allem weiter an der Flüchtlingshilfe festhalten zu wollen: „Die allermeisten Flüchtlinge, die hierher kommen, brauchen unsere Hilfe“, sagt sie.

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