„Es ist kein Zufall, dass es das Bild eines ertrunkenen Kindes war, das wie kein anderes ins allgemeine Bewusstsein drang und dem Mitgefühl Bahn brach. Kinder entziehen sich den Mechanismen öffentlicher Verachtung, weil sie für ihr Schicksal kaum selbst verantwortlich gemacht werden können. Man muss sein Herz schon gewaltig zugeschnürt haben, um sich eines Kindes nicht zu erbarmen. Es geht, aber es geht nicht, ohne die eigene Persönlichkeit zu verstümmeln.“ (Navid Kermani: „Einbruch der Wirklichkeit“)
Es war dieses Bild, das Constantin Grun nicht los ließ. Das Foto des toten Flüchtlingsjungen aus Syrien am Strand von Bodrum. Aylan, ein kleiner Junge, drei Jahre alt. Das Kind war mit seiner Familie aus dem syrischen Kobane geflohen und ertrank auf der Flucht mit seinen Eltern über das Mittelmeer.
Die Aufnahme ging um die Welt. Es löste Entsetzen und Fassungslosigkeit aus. Es war der Moment, an dem Constantin Grun entschied, dass auch er etwas tun muss. Etwas, das die Menschen bewegt und aufrüttelt, sie verbindet und ein Zeichen setzt für den Frieden.
„Frieden ist die Basis für jede zwischenmenschliche Beziehung“, sagt Grun. Grun ist ein Denker. Er hat unter anderem Musikwissenschaften studiert, außerdem Philosophie und Philologie. Trägt einen Doktortitel. Er ist 39 Jahre alt, lebt in Wilhelmsburg, arbeitet als Lehrer. Und er komponiert.
Als die Flüchtlingswelle im vergangenen Jahr ihren Höhepunkt erreichte, beschloss er, sich hinzusetzen und zu schreiben. Viele Tage, Wochen, Monate — ein ganzes Jahr. Entstanden ist ein großartiges Werk, die „Missa pro pace terrae in tempore fugae“, eine Messe für den Frieden in Zeiten der Flucht. 143 Seiten lang ist das Werk für Chor und Orchester. Es ist tonal gehalten und steht ganz in der klassisch-romantischen Musiktradition. Jetzt ist die Messe aufführungsreif.
Es ist ein beeindruckendes Stück, für das der Komponist nun Chöre und Orchester sucht. Musiker, die seine Botschaft für den Frieden in die Konzertsäle tragen und zu den Menschen. Und die bereit sind, mit ihrer Stimme eine kulturelle Antwort auf die Problematik und Herausforderungen dieser Zeit zu geben.
„Das Stück benötigt als Besetzung vier Chorstimmen, vier Solisten und Orchester. Und es braucht Sponsoren, die bei der Finanzierung unterstützen“, sagt Grun, der nicht nur die Musik wirken lassen möchte, sondern auch Worte. Also hat er Kontakt zu Navid Kermani aufgenommen, dem aktuellen Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels.
„Kermani hat sich bereit erklärt, für diesen Zweck Texte zur Verfügung zu stellen, die zwischen die einzelnen Messesätze eingeschoben werden sollen“, sagt Constantin Grun. „Schön wäre es, wenn junge Geflohene diese Texte bei der Aufführung rezitieren könnten.“ Möglich aber wäre auch, dass diese von eigenen Erfahrungen erzählen. Darüber hinaus seien Fotoprojektionen von Situationen der Flucht denkbar.
Grun, verheiratet mit einer Norwegerin, Vater eines eineinhalbjährigen Sohnes, hat viele Ideen für sein Projekt. Zum Beispiel die, dass die Einnahmen einem wohltätigen Zweck zugute kommen könnten. „Einem Fonds, der Geflohene während des Studiums finanziell unterstützt“, sagt er. Der Komponist ist sich sicher, dass das Projekt ein großer Erfolg werden könnte. Also hat er vorsorglich schon mal eine Konzertoption auf dem Kirchentag 2017 in Berlin und Wittenberg gesichert.
„Und natürlich würde ich das Werk auch gern in Hamburg sowie auf den Bühnen anderer Städte präsentieren“, sagt Constantin Grun, der nach seiner Studienzeit in Münster erst in Berlin unterrichtet hat und jetzt am Johannes-Brahms-Gymnasium im Stadtteil Bramfeld tätig ist. Auch dort engagiert er sich für die Musik, hat in der Mittelstufe das Musikprofil sowie das Schulorchester mit aufgebaut, von dessen Musikern inzwischen einige im Felix Mendelssohn Jugendsinfonieorchester spielen.
„Ich bin davon überzeugt, dass klassische Musik auch heute noch die jungen Leute begeistern kann“, sagt er. So wie ihn damals, als er, gerade elf Jahre alt, beeindruckt von Beethoven und Verdi, beschloss: „So etwas möchte ich auch machen.“ Er lernte Klavier, begleitete seinen Vater beim Gesang, begann zu improvisieren und seine ersten eigenen Stücke zu schreiben. Nebenbei sang er im Kammerchor Rüthen — darunter auch klassische Messen von Schubert und Mozart. Schließlich begann er sein Studium in Münster.
Für das Komponieren bleibt ihm neben seinem Beruf kaum Zeit. Also nutzt er die Ferien, die er fast immer in Norwegen verbringt. Ein Teil der „Missa pro pace terrae in tempore fugae“ ist dort entstanden. „Die Flüchtlingskrise ist ein Thema, das uns nachhaltig bestimmen und unser Land verändern wird“, sagt Grun. „Es ist eine Herausforderung, der wir uns stellen müssen.“
Seine Antwort darauf hat er in Musik gefasst. Eine Bitte um den Frieden, deren Text auf menschliches Hoffen und Leid eingeht. „Klangsprachlich irgendwo zwischen Schubert und Bruckner gehalten“, wie Grun betont. Sein größter Wunsch ist, dass die Komposition aufgeführt wird. „Vielleicht in den großen Kirchen unseres Landes oder aber länderübergreifend, so dass deutsche Chöre mit ausländischen Orchestern gemeinsam für den Frieden musizieren.“
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