Winsen. Sie zogen in eine Unterkunft, doch ihre Koffer haben sie nie ausgepackt: Rund 300 der derzeit fast 3300 Flüchtlinge im Landkreis Harburg sind nach Informationen des Abendblatts zwar offiziell im Landkreis gemeldet und beziehen Unterhalt nach dem sogenannten Asylbewerberleistungsgesetz. Faktisch anwesend sind sie in den Wohnungen und Containern aber nicht. Kreissprecher Johannes Freudewald begründet dieses Phänomen damit, dass es zwar für jeden Flüchtling eine Art Zuordnungsadresse in den Städten und Gemeinden gibt. „Die Leute sind hier aber nicht kaserniert“, sagt er.
Wo sich die Flüchtlinge aufhalten – das weiß niemand. Man könnte es auch so ausdrücken, dass die Kreisverwaltung der Situation machtlos gegenübersteht. Allein in der rund 130 Bewohner zählenden Flüchtlingsunterkunft am Fachenfelde in der Gemeinde Stelle sind 16 Flüchtlinge seit ihrer Zuweisung nie mehr gesehen worden. Als Leistungsempfänger werden sie dennoch geführt.
Johannes Freudewald hat dafür eine Erklärung. „Solange sie im Asylverfahren mitwirken, haben wir keine Handhabe“, sagt er. Damit ist gemeint, dass sie an den offiziellen Behördenterminen teilnehmen, ihre Aufenthaltsgestattungen verlängern lassen, die meist auf drei oder sechs Monate ausgestellt sind, oder einmal im Monat leibhaftig ins Rathaus kommen und das ihnen zustehende Unterhaltsgeld abholen.
Gerhard Koch beobachtet die Situation mit Sorge. Der Flüchtlingskoordinator der Gemeinde Stelle hat von Anfang an, seit der großen Ankunftswelle im vergangenen Jahr, festgestellt, dass eine große Zahl der Zuweisungen nur fiktiv geblieben ist. Bis zu 50 Prozent der Asylbewerber seien zeitweise nie oder so gut wie nie in den Unterkünften am Fachenfelde anwesend gewesen, berichtet er. „Manche waren anfangs einige Wochen da und sind dann auf einmal weggegangen, manche sind nur alle 14 Tage da, und andere haben wir nie gesehen.“
Das Problem daran: Obwohl die Plätze de facto unbelegt waren, galten sie als belegt. Der Landkreis musste immer neue Unterkünfte schaffen, obwohl ein Teil in Wirklichkeit noch frei war.
Mittlerweile hat man im Winsener Kreishaus aber zumindest auf diese Problematik reagiert. Schon seit Längerem gibt es in den von Human Care betriebenen größeren Anlagen eine tägliche Meldung der Hausmeister oder Heimleiter an die Kreisverwaltung, wie viele Personen tatsächlich anwesend sind. Zumindest geschätzt, einen Morgenappell gibt es nicht.
Mit diesen Zahlen als Grundlage kann der Landkreis entscheiden, wie viele Betten ein zweites Mal belegt werden können. Derzeit sind das insgesamt 225, während 75 noch als Notunterbringung frei gehalten werden für den Fall, dass der verschwundene Flüchtling eines Tages doch wieder auftauchen sollte. In Stelle konnte auf diese Weise der Leerstand auf unter 15 Prozent gesenkt werden. In Gerhard Kochs Augen ist die Zahl dennoch ziemlich hoch, zumal nach wie vor die Flüchtlinge auf Drei- statt auf Zweibettzimmer verteilt werden. Koch hält das für nicht nachvollziehbar.
„Man kann nicht so viele Plätze unnütz vorhalten“, findet der 76-Jährige, der früher als Kapitän in der Handelsschifffahrt tätig war. Vielmehr sollte man ähnlich wie bei der Obdachlosenhilfe verfahren, wo es auch nur eine geringe Bettenzahl für den Notfall gebe. „Man müsste viel rigoroser sagen, wer den Platz nicht nutzt, hat sein Recht verwirkt.“
Er wolle niemandem Unrecht tun, sagt Koch, der seit sechs Jahren auch in der sozialen Sprechstunde der Diakonie tätig ist. Aber in seinen Augen ist die Frage berechtigt, warum die Flüchtlinge die Plätze gar nicht nutzen.
Johannes Freudewald kann diese Frage nicht beantworten. Man könne nur mutmaßen, dass sie bei Freunden oder Verwandten wohnen. Auch die Möglichkeit einer Mehrfach-Anmeldung kann er nicht ausschließen. „Wenn Missbrauch betrieben werden sollte, müssen wir natürlich eingreifen“, sagt er. Nur: Wie soll der nachgewiesen werden?
Aufgrund der unkontrollierten Einreise im vergangenen Jahr sei eine Ausnahmesituation entstanden, die man jetzt nach und nach abarbeite, so Freudewald. Er ist überzeugt, dass die Zahl der nicht klar definierbaren Flüchtlingsfälle abnehmen wird, wenn erst einmal alle Menschen zentral erfasst seien.
Gerhard Koch hofft das ebenfalls, auch wenn er weiß, dass damit längst nicht alle Probleme gelöst sein werden. Die Mammutaufgabe der Integration jeder einzelnen Person steht noch bevor und aus seiner täglichen Arbeit weiß er, wie schwer das ist. Zum Internationalen Café in Stelle kämen beispielsweise immer nur 30 bis 35 Flüchtlinge aus den Unterkünften. „Aber wo ist der Rest?“, fragt sich Koch. Auch auf diese Frage hat er bisher keine Antwort bekommen.
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