Harburg. Carl Alexander war kaum jünger als sie. Ein dunkelhaariger Schüler, zwölf Jahre alt. Es hätte einer von ihnen sein können, einer, der dazu gehört, ganz gleich, ob Christ, Jude oder Moslem, dunkelhäutig oder hell. Doch Carl Alexander wurde am 15. Mai 1919 geboren. Er wuchs im Nationalsozialismus auf. Und er war Jude.
Im Sommer 1930 wurde der Junge auf einem Schulausflug plötzlich von mehreren Mitschülern angegriffen und unter lauten Rufen „Kreuziget ihn! Kreuziget ihn!“ an einen Baum gebunden. Elf Jahre später verlor er seinen Vater, Alfred Gordon. Er war der letzte Kantor der Harburger Jüdischen Gemeinde. 1941 wurde er ins Getto Łódz deportiert.
Wenn Zeinab Soumano darüber spricht, schüttelt sie betroffen den Kopf. „Das alles ist für mich unvorstellbar“, sagt sie. „Es sind doch alles Menschen gewesen. Menschen wie du und ich.“ Zeinab ist Schülerin, 14 Jahre alt, sie kommt aus Marokko und besucht die Goethe-Schule-Harburg.
Gemeinsam mit ihren Mitschülern hat sie sich im Rahmen der Projektwoche vorgenommen, die jüdische Geschichte in Harburg zu dokumentieren. Also recherchieren die Jugendlichen, machen Interviews mit Experten und Zeitzeugen und drehen Filme, die sie ins Internet stellen.
Angeleitet werden sie von Carmen Smiatacz vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ). Die 29-Jährige leitet das Projekt „Geschichtomat“. Dahinter steckt die Idee, mit Hilfe von Schülern einen digitalen Stadtplan zum jüdischen Hamburg zu entwickeln. An dem Projekt, das 2013 an den Start gegangen ist, haben inzwischen 17 Schulen teilgenommen.
Über 80 Video-, Text- und Foto-Beiträge sind entstanden, in denen Jugendliche ihren Besuch auf einem jüdischen Friedhof schildern, koschere Gummibärchen verkosten, sich mit den Biografien von verfolgten Juden beschäftigen oder den Landesrabbiner Shlomo Bistritzky interviewen.
Ermöglicht wird das Projekt durch die Reinhard-Frank-Stiftung. Zu den Kooperationspartnern gehören das Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulbildung Hamburg und die Landeszentrale für politische Bildung. Jeweils für eine Woche gehen die Projektmitarbeiter – Fachleute und Medienpädagogen – in den Unterricht. Mit der Goethe-Schule-Harburg hat nun erstmals eine Schule im Hamburger Süden teilgenommen.
Im Rahmen der Projektwoche mit dem Arbeitstitel „Flucht nach vorn“, hatte sich Klassenlehrerin Natalia Wohlgemuth für eine Teilnahme beim Geschichtomat mit ihrer achten Klasse beworben. Zum einen, weil ihr das Thema am Herzen liegt, zum anderen, weil sie will, dass die Jugendlichen gerade angesichts des Flüchtlingszustroms lernen, wie schmal der Grat zwischen dem positiven Interesse am Unbekannten und der Ablehnung von fremden Minderheiten sein kann.
„Die Schüler beschäftigen sich alle zum ersten Mal mit jüdischer Geschichte“, sagt Projektleiterin Carmen Smiatacz. Um so größer sei die Betroffenheit bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Dabei gehe es ausdrücklich nicht nur um die Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch um die vielen anderen Facetten jüdischer Geschichte und Kultur. Und ganz nebenbei auch darum, zu lernen, wie man mit den neuen Medien im Unterricht sinnvoll arbeiten könne.
Also haben sich die Schüler auf den Weg gemacht, im Gespräch mit dem Wissenschaftler Michael Studemund-Halévy auf dem jüdischen Friedhof Am Schwarzenberg erfahren, dass jedes Grab dort für die Ewigkeit bestehen bleibt und auch der Grabstein nicht entfernt wird. Und dass die Besucher als kleinen Gruß an den Verstorbenen kleine Steine auf den Grabstein legen.
Sie haben sich mit der Biografie von Alfred Gordon beschäftigt, dem letzten Lehrer und Vorbeter der jüdischen Gemeinde von Harburg-Wilhelmsburg, haben dessen Wohnort besucht und ein Interview mit Klaus Möller von der Initiative Gedenken in Harburg geführt. Sie haben die Phoenix-Werke angeschaut und mit der Sängerin Inge Mandos jüdische Musik einstudiert.
Fünf Minuten dauern die Filme, in denen eine ganze Woche Arbeit steckt. Viel vom Bildmaterial müssen die Schüler löschen. Doch die Geschichten und Schicksale bleiben ihnen im Gedächtnis. Und die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass ein ganzes Volk aufgrund seines Glaubens verfolgt wurde. „Ich bin glücklich, dass ich heute lebe“, sagt Zeinab Soumano. Schüler aus elf Nationalitäten sind in ihrer Klasse. Sie glauben an Gott oder an Allah. Tragen Kopftuch oder eben keins. Und keiner von ihnen hat ein Problem damit.
Der Geschichtomat ist für alle Schulformen geeignet. Teilnehmen können Schüler ab der Mittelstufe im Klassenverband oder in Projektgruppen. Infos unter www.geschichtomat.de oder Tel. 040/428 38 80 45
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