Walter Witt stammt aus Neu Wulmstorf. Seit 10 Jahren ist er Postbeamter im Ruhestand. Und ehemaliger Protestant. Aber seit einigen Jahren protestiert er heftig, geradezu wild. Er stöbert Litfaßsäulen auf und beklebt sie verbotenerweise mit seinen Plakaten, da, wo noch Platz ist. Auf allen steht nur ein Satz: „Die Bibel ist ein Märchenbuch“.
Er behauptet, dass in ihr ziemlich viel Unfug stecke. Sie sei der größte Schwindel der Weltgeschichte und der größte Humbug. Polizisten haben ihm schon öfter seinen schwarzen Edding-stift weggenommen. Er macht weiter. Hat sogar ein Buch geschrieben. Titel – natürlich! – „Die Bibel ist ein Märchenbuch“ – Daten, Fakten, Widersprüche. Sogar in historischer, wissenschaftlicher und juristischer Perspektive. Ich staune. Nicht über so viel Bildung dieses eifernden Missionars. Sondern über einen so großen Mangel.
Lieber Herr Witt, die Bibel ist ein Glaubensbuch. Sie ist nicht interessiert an Tatsachenberichten, naturwissenschaftlichen Erklärungen oder gar wissenschaftlichen Beweisen, etwa für die Entstehung der Welt. Immer geht es in ihr um existentielle Grundfragen des Lebens, um Angst und Vertrauen, Zweifel und Freude. Um die Frage, wie durch gewaltloses Handeln Gewalt überwunden werden kann. Um meine und Ihre Sehnsucht nach Frieden im eigenen Herzen und in der oft so durch Menschen bedrohten Welt. Gott gegenüber wird dankbar das eigene Glück bekannt. All dieses beziehen die biblischen Schreiber auf Gott. In dem Glauben, dass Gott nichts Menschliches fremd ist. Die erhofften Lebenswahrheiten liegen auf einer anderen Ebene als auf der wissenschaftlichen.
Was die Widersprüche betrifft: Bedenken Sie, bitte, dass die Bibel eigentlich gar kein Buch ist. Sie ist eine Bücherei, eine Sammlung von 39 Schriften im Alten und 27 im Neuen Testament. Gewachsen in Jahrhunderten. Nicht vom Himmel gefallen und nicht von Gott diktiert. Diese Bücherei enthält Geschichten und Novellen, Lieder, Psalmen und Gebete, Gleichnisse und Bildworte, die aus verschiedenen Zeiten, verschiedenen Kulturen und Ländern stammen. Und von ganz vielen und verschiedenen Glaubenszeugen aufgeschrieben wurden. Und nur recht zu verstehen sind als Glaubenserfahrungen. Natürlicherweise muss es da Unterschiede und Widersprüche geben. Die Sprache ist keine kalte und wissenschaftliche, sondern eine tiefsinnige, vielfach symbolische, gleichnishafte und voller Poesie. Wer die Bibel wortwörtlich versteht, landet im Fundamentalismus. Den gibt es in allen Religionen. Den beklagen wir bei Islamisten zu Recht. Das tun auch die aufgeklärten Islamwissenschaftler. Die dringen darauf, die Suren des Koran aus der jeweiligen Entstehungszeit und Situation zu interpretieren. Dazu gehören natürlich Verstand und historische Kenntnisse. Wie jeder Theologe sie haben muss, wenn er 2000 Jahre alte Texte für Menschen unserer Zeit überzeugend verständlich machen will.
Im Übrigen stört mich sehr, wie der Herr Bibelkritiker die Märchen versteht. Märchen sind kein Kinderkram und nicht (nur) für Kinder geschrieben. Märchen sind wunderbare und verzaubernde Geschichten vom Leben für das Leben. Sie sind auch keine Tatsachenberichte, Sie schwindeln auch nicht. Sie verdichten das Leben geradezu in Sinnbildern. Wie in der Bibel geht es in ihnen auch um die Grundfragen unseres Lebens und Menschseins. Sie erzählen vom Suchen nach Glück und schildern, wie ein gutes und sinnerfülltes Leben sich anfühlt. Immer geht es um zwei große Wünsche. Zum einen, den eigenen, guten und erfüllenden Weg zu finden. Und zum anderen darum, dass die Liebe stärker sein möge als Gewalt und Tod. Wenn ich an das Märchen vom eigensüchtigen Riesen denke, dann erlebe ich mit, wie ein hartes und kaltes Herz durch ein krankes und gestorbenes Kind in ein liebendes und zärtliches verwandelt wird. Bei „Hans im Glück“ erleben wir den scheinbar törichten Hans mit seinem Goldklumpen, den er gegen Minderwertiges eintauscht. Hans ist Materielles völlig egal. Er pfeift auf sein Vermögen. Am Ende, als er nichts mehr hat und frei ist von aller Last, kehrt er glücklich und erleichtert heim zu seiner Mutter. Die Wahrheit dieses Märchens kann jeder für sich entdecken. Ohne Fakten, Erklärungen oder gar Beweise.
Diese Wahrheit liegt durchaus auf der Ebene von biblischen Geschichten. Man kann „Hans im Glück“ durchaus mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn in Beziehung setzen. Der lässt sich sein Erbe auszahlen, löst sich vom Vater und vom Elternhaus, will frei und unabhängig sein. Er bringt alles Geld durch, wird unglücklich, geht in sich und beschließt, zu seinem Vater zurückzukehren. Der läuft ihm mit offenen Armen entgegen, gibt ihm ein Fest. Das ist kein Tatsachenbericht, aber wohl ein besonderer „Beweis“ für die Liebe. In einer typisch menschlichen Erzählung ein Hinweis auf Gott, den Christen den Vater aller Menschen nennen. Ein Vater, dessen Herz und Arme immer offen sind. Merke: Bilder zwingen zu nichts. Sie laden zum eigenen Verstehen ein. Sie zeigen eine Lebenswahrheit, die anders ist als eine Wahrheit, die man beweisen kann. Bilder sind stärker als Worte. Erst recht stärker als kalte, wissenschaftliche und scheinwissenschaftliche Worte. Die Heilungswunder sind keine Geschichten von einem großen Zauberer. Sie illustrieren die befreiende Macht Jesu.
Obwohl sich viel Verbindendes zwischen Bibel und Märchen findet, bleibt es dabei: Die Bibel ist k e i n Märchenbuch! Ich gestehe freimütig, dass ich vor Jahren auf eines der Witt-Plakate mit einem dicken schwarzen Edding ein ‚K‘ vor „ein Märchenbuch“ gemalt habe. Ich denke, das ist verjährt! Schade für Sie, lieber Herr Witt, dass es kaum noch die alten runden Litfaßsäulen gibt.
Helge Adolphsen ist emeritierter Hauptpastor des Hamburger Michel
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