Vor 50 Jahren wurden Menschen mit geistiger Behinderung noch versteckt.

Die Mütter und Väter schämten sich. Manche fühlten sich vom Schicksal bestraft. Oder von Gott. In jedem Fall ausgegrenzt. Am normalen Leben hatten sie keinen Anteil. Auch ihre Kinder nicht.

Anfang der 70er-Jahre habe ich in meiner ersten Gemeinde alle 18 Familien mit einem geistig behinderten Kind oder einem jungen Erwachsenen besucht. Und dann eine Gruppe gegründet, mit ehemaligen Konfirmierten und Menschen mit Behinderung. „Behinderte“ sagte ich schon damals nicht. Sie sind doch zuallererst Menschen. Wir veranstalteten Gruppennachmittage mit Spielen und Tanzen. Feierten Feste, machten Ausflüge und bezogen die Eltern mit ein. Meine Überzeugung: Eine Gemeinde und eine Gesellschaft, die Menschen mit Behinderungen und Kranke nicht integriert, ist selbst behindert und krank.

Daran wurde ich jetzt erinnert, als ich von Raphael Müller las. Der 15-Jährige ist mehrfach behindert und zugleich hochbegabt. Die ersten sieben Jahre seines Lebens hatte er keine Möglichkeit, mit anderen zu kommunizieren. Er ist Autist, Epileptiker und an den Rollstuhl gebunden. Er kann nicht einmal gestikulieren. Der Grund: Er hat einen vorgeburtlichen Schlaganfall erlitten. Lange wusste niemand, dass er bereits im Vorschulalter lesen und rechnen konnte. Mit sieben Jahren lernte er dann das „gestützte Schreiben“. Das ist eine Methode, die aus den USA stammt. Eine vertraute Person berührt den Schreibenden behutsam. In diesem Fall Raphaels Mutter. Sie gibt ihm sozusagen krankengymnastische Hilfestellung. Das hilft ihm, selbst auf dem Computer zu schreiben. Inzwischen geht Raphael aufs Gymnasium. Er hat ein Buch geschrieben über seine bewegende Geschichte. Titel: „Ich fliege mit zerrissenen Flügeln“. Darin vergleicht er seine Situation mit einem defekten Bildschirm. Dadurch komme es häufig zur Diagnose „komplett kaputt“, obwohl Hard- und Software des PC noch völlig intakt sind.

Andere mit ähnlicher Behinderung und ebenso begabt, gehen auf eine Förderschule für geistig Behinderte. Raphael besucht sogar Autorenzirkel und Veranstaltungen an der Universität. Dort tauscht er sich mit Dozenten und Studenten aus über das Thema „Inklusion“. „Ich will nicht in einem Ghetto leben“, schreibt er. Er will selbstständig sein und ein selbstbestimmtes Leben führen. Er kann sich dafür auf die UN-Menschenrechts-Konvention berufen, die 2008 in Deutschland in Kraft getreten ist. Die verbietet Diskriminierung von Menschen aufgrund von Behinderung. Ebenso der Artikel 3 des Grundgesetzes: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Die gesetzlichen Ausführungsbestimmungen werden zu wenig beachtet. Die Klischees wirken weiter: Menschen mit geistiger Behinderung sind dumm oder doof wie kleine Kinder, sie verdienen Mitleid.

Deshalb spricht er nicht von seiner Integration in die Gesellschaft, sondern von Inklusion. Inklusion ist anderes und mehr als Integration. Menschen mit Behinderung müssen nicht in die vorhandene Gesellschaft eingegliedert werden oder sich anpassen. Ihre Eigenständigkeit, ihre Selbstbestimmung und ihre Würde werden als Ausgangspunkt von Veränderungen der Gesellschaft gesehen. Raphael hat das in einem Brief an die Bundeskanzlerin so formuliert: „Jegliche Form von Ausgrenzung Behinderter beraubt die Gesellschaft, schmälert die soziale Kompetenz und reduziert die Schule auf das Minimum der Leistungserbringung.“ Das sind Sätze, die auf die Veränderung in unseren Köpfen, aber auch der Gesellschaft zielen. Natürlich können nicht alle Jugendlichen mit Behinderung auf ein Gymnasium gehen. Aber die Schulpolitik muss darüber nachdenken, wie das Zusammenleben von Schülern mit und ohne Behinderung neu gestaltet werden kann.

Raphael schreibt auch Gedichte. Und er schreibt auch über seine Ohnmacht, weil er nicht verstanden wurde und ihm niemand glaubte, dass er denken und schreiben konnte. Über seinen Kampf mit seinem Körper, der nicht so funktionieren will, wie er möchte. Über viele Operationen und Therapien. Endlich kann er sich alles von der Seele schreiben und muss nicht mehr hinter einer Nebelwand vegetieren. Er kann jetzt kommunizieren wie gesunde Menschen. Darüber ist er glücklich und froh wie seine Mutter.

Doch er kennt auch die dunklen Stunden und Tage, wenn er nicht gestützt schreiben kann. Wenn er epileptische Anfälle und Schmerzen hat, fühlt er sich einsam und wieder unverstanden. Aber er hat eine zweite wichtige Stütze neben dem Schreiben gefunden. Das ist sein Glaube. Der Gedanke an Gott gibt ihm einen starken Halt: „Gut, dass man mit Gott auch stumm kommunizieren kann“, schreibt er.

Helge Adolphsen ist emeritierter Pastor des Hamburger Michels.