Wassilij Goron leitet eine ganz besondere Band: Die „Men in Blech“

Wassilij Gorons Arbeitsplatz liegt in einem kleinen Zimmer im ersten Stock eines alten Kontorhauses am Eversween. Die Aussicht ist spektakulär. Durchs Fenster blickt man auf die imposante Retheklappbrücke und über das Hafenbecken mit Baggern und Schiffen bis hin zur Elbphilharmonie. Kürzlich hat Wassilij sich eine Sitzschaukel zugelegt. Wenn er sich ausruhen möchte, setzt sich hinein und genießt das Panorama. Meist aber ist die Matte eingerollt und an ihrer Stelle hängt ein Box-Sack. Daneben ist eine Metallgabel für Klimmzüge angeschraubt. Eine der vergilbten Wände ist komplett verspiegelt.

Wassilijs Reich gliche einem Fitness-Studio, wären da nicht der Notenständer, das Keyboard und die Posaune. Tatsächlich ist der Raum Kreativ-Werkstatt eines außergewöhnlichen Musikers. Wassilij Goron, 48, Wahl-Neugrabener, ist Schöpfers eines neuen Genres: Des Brassballett. Brass ist das englische Wort für Messing und eine Bezeichnung für Musik mit Blechinstrumenten. Der Name meint somit die Verschmelzung von Blasmusik und Tanz.

„Mit Blasmusik assoziiert man in erster Linie Militärmärsche und Volksmusik. Also etwas, das immer weniger Menschen interessiert. Ich wollte dazu beitragen, Blasmusik für viele, vor allem für Jugendliche, attraktiv zu machen“, erklärt Wassilij. Er habe überlegt, wie das zu bewerkstelligen sei und sich gefragt, was er am meisten liebe und am besten könne. Die Antwort auf beide Fragen lautet: Posaune spielen und tanzen.

Wer verstehen will, warum Wassilij so viel daran liegt, die Blasmusik vor dem Niedergang zu retten, muss wissen, dass die Musik ihn vor Abstieg bewahrt hat. Und das mehr als einmal. Er stammt aus Krasnodon, einer Bergarbeiterstadt in der Ostukraine, im zurzeit schwer umkämpften Donezbecken, dem Donbas. Kindheit und Jugend sind durch Armut und zerrüttete Familienverhältnisse geprägt. Anstatt Liebe und Fürsorge gibt es für Wassilij nur Schläge und Entbehrungen. Musik kennt er nicht, bis er eines Tages in einem Pionierlager ein Mädchen Klavier spielen sieht und hört. Da eröffnet sich ihm eine neue Welt und er weiß: Das will ich auch.

Doch Klavierunterricht will und kann die Mutter ihm nicht finanzieren. Schließlich trotzt der Sohn ihr Posaunenunterricht ab. Das ist zwar absolut nicht dasselbe, aber es ist erheblich billiger. Und immerhin Musik! Er hat das Glück, einen guten und modernen Lehrer zu finden, der die Gabe seines Eleven erkennt und fördert. Schon bald, nachdem Wassilij begonnen hat, Posaune zu blasen, beginnt sich der Unterricht auszuzahlen. Er verdient erstmals Geld mit seinem Talent. „Ich leitete ein Fabrikorchester, eine Gewerkschaftskapelle. Ich, der Dirigent, war 16, die Musiker alle mindestens Mitte 40“, erinnert er sich.

Obwohl Wassilij schon damals kein besonderes Faible für Marschmusik hat, absolviert er in Moskau ein Studium zum Militärkapellmeister. „Das war die einzige Möglichkeit, eine gute Ausbildung zu kriegen.“ Und es ist die Chance, der Heimatstadt und dem sozialen Elend seines Elternhauses zu entkommen. Er genießt die Zeit in Moskau. Neben dem Studium spielt er Dixieland in einer Band. Und stellt mit Mitte 20 fest: Musiker ist er mit Leib und Seele. Aber zum Kriegshelden taugt er nicht. 1991, im Kaukasus wird gekämpft, entschließt er sich zur Flucht, obwohl er gerade Vater geworden ist. Er verspricht seiner Frau, sie und das Baby baldmöglichst nachzuholen und besteigt ein Flugzeug nach Hamburg, im Gepäck nichts als seine Posaune.

Weil er nicht weiß, wohin und weder Geld hat noch Deutsch oder Englisch beherrscht, lebt er vier Tage lang im Flughafen. Bis das Sicherheitspersonal seine Ausrede, er würde abgeholt, nicht länger glaubt. Da macht er auf Platte. Schläft in „Planten un Blomen“ auf Bänken, nächtigt unter Brücken und in Hauseingängen. Schließlich rät ihm jemand, Asyl zu beantragen. So kommt er ins Asylantenheim Neugraben. Arbeiten darf er nicht. Aber er verdient sich tagsüber etwas mit Straßenmusik, leitet abends Kirchenorchester, spielt in Bands. Lernt Musikkneipen und Leute aus der Branche kennen. Die empfehlen ihn weiter. Er, der fremde Flüchtling, der gerade erst dabei ist, sich mühsam im Eigenstudium die Sprache anzueignen, macht sich einen Namen in der Stadt. Irgendwann klingelt sein Handy. Ob er in Nenas Band spielen wolle, wird er gefragt. „Und ich frage zurück: Wer ist Nena?“

Wassilij redet nicht gern über seine Vergangenheit. Aber wenn er es tut, ist es, als breche sich ein aufgestauter Fluss Bahn. Er erinnert sich an jede Einzelheit, jeden Schritt, der ihn dahin gebracht hat, wo er heute steht. Es ist eine Odyssee voller Irrungen und Wirrungen, voller Hoffnung und Enttäuschung, Ungewissheit und Angst. Die Musik ist darin die Konstante, die ihm Halt gibt. So hat Wassilij letztlich mehr Glück als Odysseus. Schon nach einem Jahr kann er Frau und Kind nachholen. Nach drei Jahren erhält die Familie dauerhaftes Bleibereicht und Wassilij damit eine Arbeitserlaubnis. Nach sechs Jahren beziehen die Gorons eine eigene Wohnung in Neugraben, wo sie sich inzwischen heimisch fühlen. Nach 13 Jahren, endlich, erhält Wassilij die deutsche Staatsbürgerschaft.

Seit seiner Ankunft in Hamburg wächst der musikalische Erfolg rasant. Ein persönliches Highlight markiert die Eröffnung des neuen Flughafenterminals. Denn Wassilij musiziert an diesem Tag genau dort, wo er Jahre zuvor gestrandet war, orientierungs- und mittellos. Ein Triumph, der ihn anspornt. Wassilij arbeitet unermüdlich. Er gibt Unterricht, wirkt bald für Schlagerstars wie Robert Blanco oder Jürgen Drews, spielt unter anderen in der Transatlantik Big-Band und einem Salsa Ensemble.

Während er nächtelang lateinamerikanische Rhythmen anstimmt, sieht er das Publikum übers Parkett wirbeln. Der sinnliche Tanz animiert ihn 2003 zur Gründung seiner ersten Band. „Men in Blech“ ist eine mobile Bläsertruppe, die in Anlehnung an die Filmfiguren aus „Men in black“ dunkle Anzüge, Sonnenbrillen und Hüte trägt und nicht nur perfekt ihre Instrumente, sondern auch ihre Körper beherrscht.

„Wenn die Bären im Moskauer Zirkus Schlittschuh laufen, dann können Bläser auch tanzen“, denkt er. Ein Irrtum, wie sich heraus stellt. „Musiker sind motorisch unterentwickelt“, stellt er frustriert fest. „Wenn andere Kinder draußen spielen und toben, beschäftigen sie sich mit ihrem Instrument. Wenn andere Teenager in der Disco hotten, üben sie. Und wenn andere Erwachsene aktiv ihre Freizeit gestalten, beschränken sie sich aufs Musik machen.“ So erklärt er sich, dass die meisten nur steif vom Blatt abspielen können, anstatt die Töne „mit dem ganzen Körper zu leben“.

Er selbst hat den Rhythmus im Blut und bildet sich ständig in Tanzworkshops weiter. Die Choreografien sind genauso sein Werk wie die musikalischen Arrangements von Michael Jackson über die Beatles bis Bach oder das sibirische Volkslied. Hip-Hop, Salsa, Street Dance, Tango – alles probiert und kombiniert er im kleinen Zimmer mit Aussicht auf die Rethebrücke. Die Posaune in der Hand und an den Lippen, bläst, dreht und springt er vor dem Spiegel. Auf und ab, hin und her, vor und zurück. Das erfordert eine unglaubliche Kondition. Deshalb hält er sich mit Kickboxen und Klimmzügen fit.

Klar, dass Musiker, die Mitglied von „Men in Blech“ werden wollen, nicht etwa vorspielen, sondern vortanzen müssen. Als für das Projekt geeignet erweisen sich nur die wenigsten. 22 Mitglieder hat die Truppe zurzeit. Männer und Frauen, die allesamt weit jünger sind als ihr Bandleader. Um den junge Leuten mehr Auftritte und dem neuen Genre mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, gründet Wassilij 2011 das Brassballett, eine choreographierte Tanzshow für die Bühne. Zum Ensemble gehören neben Bläsern auch Gitarristen, Keyborder und Trommler. Die furiose Präsentation von Jazz, Funk, Pop und Swing wirkt nicht nur auf die Akteure atemberaubend, sondern auch auf die Zuschauer. Die Performance reißt das Publikum regelmäßig von den Sitzen. Und zwar weltweit. Sogar in der feuchten Tropenhitze Borneos hat die Truppe schon gespielt. Obwohl sie die Jacketts schon bald abgelegt hatten, was eigentlich tabu ist, waren am Ende alle wie aus dem Wasser gezogen und zu Tode erschöpft. „Ich habe immer nur gedacht, dass ich nicht auf der Bühne sterben möchte“, erinnert sich Wassilij. „Es war die Hölle.“

Der Himmel sind für ihn längere Aufenthalte in einer Stadt, während derer die Truppe mehrere Tage hintereinander auftritt, so wie neulich in Berlin. Denn dann wird die Vorstellung von Mal zu Mal besser, weil die Routine zunimmt. Wassilij ist erst zufrieden, wenn das Publikum derart fasziniert ist, dass niemand die Augen von der Bühne zu wenden vermag. Wenn die Menge rast vor Begeisterung und die Künstler nicht gehen lassen will. Und wenn, so wie kürzlich geschehen, am Ende der Show ein Zuschauer dem Bandleader ergriffen die Hand schüttelt und sagt: „Sie haben mich heute Abend glücklich gemacht.“

Früher hat Wassilij nichts mehr gefürchtet, als imitiert zu werden. Das ist vorbei. Im Gegenteil: Er möchte, dass seine Kunstschöpfung weiter getragen und entwickelt wird. Vor einiger Zeit hat er einem Freund aus Moskauer Studientagen das Video einer gesamten Show geschickt. Damit er sie teilweise oder als Ganzes mit seinem Militärorchester einübt. Damit auch in Russland endlich nicht mehr das langweilige Täterätä und Dschingderassa Bumm gespielt wird, wie seit Jahrzehnten. Die einzige Veränderung an den Aufführungen zu staatlichen Festtagen sei doch, dass die Zahl der Zuschauer beständig abnehme, sagt Wassilij. Er verfolgt die Übertragung dieser Veranstaltungen im russischen Fernsehen.

Der Freund hat sich am Brassballett versucht. Und schließlich erfolglos aufgegeben. Dabei, sagt Wassilij, sei der ein wirklich richtig guter Musiker und Dirigent. Wie alle Militärkapellmeister, die in Moskau ausgebildet wurden. „Nur können sie sich nicht bewegen.“ Wassilij schweigt, legt sein Instrument auf die Fensterbank und schaut über das Wasser – Richtung Elbphilharmonie.