Schäferin Ute Pelka wacht im Fischbeker Schafstall über den wertvollen Nachwuchs der Heidschnucken

Fischbek. Die Fischbeker Heide liegt zurzeit öde und leer. Es fehlt der lebendige Teppich. Jener zottelige Flokati grauer Leiber, der sonst täglich hügelauf und hügelab rollt, getragen von 600 streichholzdünnen schwarzen Beinen. Momentan hinterlassen nirgends gespaltene Klauen ihre V-förmigen Spuren im Sand. Calluna- und Erikatriebe sind sicher vor mahlenden Kiefern. Kein Birkenschössling wird von rauen Zungen gerupft, kein Eichenzweiglein von scharfen Zähnen zermalmt. Kein „Määäh“ und kein „Bäääh“ zerreißt die Stille im 770 Hektar großen Naturschutzgebiet, dem drittgrößten Hamburgs.

Die Schafherde, die im Auftrag der Stadt die schon vor Jahrhunderten durch Rodung und Beweidung entstandene Kulturlandschaft pflegt, macht Ferien. 141 Schnucken und neun Ziegen, die sonst bei jedem Wetter unermüdlich fressend die Existenz der Heide und damit die eigene Lebensgrundlage sichern, haben vorübergehend das Fach gewechselt und sich von Vegetations-Dezimierung auf Fleischproduktion verlegt. Seit Mitte Februar befinden sie sich im kollektiven Mutterschaftsurlaub.

Ein Dutzend Lämmer hat bereits das dämmrige Licht des Schafstalls am Fischbeker Heideweg erblickt. Mehr als 100 weitere schwarzgelockte Fellknäuel und eine Handvoll heller Zicklein werden bis Ostern folgen. Wenn das letzte Böckchen, die letzte Zippe geboren ist, werden Schäferin Ute Pelka, ihr unermüdlicher Hütehund „Dickie“ und die Schar der Paarhufer wieder ihre gewohnte Arbeit unter freiem Himmel aufnehmen.

„Darauf freue ich mich schon“, sagt die 49-Jährige. Für sie ist ihr Beruf trotz körperlicher Anstrengung, Witterungs-Unbilden, Sieben-Tage-Woche und schmalem Salär noch immer Traumjob. Aufmerksam lässt sie die Augen über die Rücken der Tiere gleiten. Jetzt, in der Lammzeit, bleibt die Herde Tag und Nacht im Stall und ihre eigene vordringlichste Aufgabe besteht darin, die Neugeborenen so rasch wie möglich zu entdecken, um dann Mutter und Kind der besseren Übersicht halber in Einzelbuchten zu verfrachten. Es gilt, sicher zu stellen, dass die Kleinen wohlauf sind, eigenständig aufstehen und Milch saugen. Neuankömmlinge inmitten der dicht gedrängt stehenden Herde zu entdecken, ist gar nicht so leicht, zumal die staubigen Lampen nur schwach leuchten. Etwas heller ist es am Tor. Doch an diesem verregneten Vorfrühlingsmorgen ist das Licht, das durch die weit geöffneten Flügeltüren scheint, ziemlich trübe. „Heute kommen wenigstens keine Spaziergänger, die am Zaun stehen, die Schafe nachmachen und mich und die Tiere mit ihren Rufen stören“, sagt Ute Pelka. Sie mag es, wenn es so still ist wie heute. Nur leises Scharren und das zarte Knistern von getrocknetem Gras sind zu hören. Die jungen Mütter und jene, die es in den nächsten Tagen und Wochen werden, haben ihre Köpfe tief in die Raufen gesteckt und schwelgen in der Mischung von Silage und Kraftfutter. Es ist wichtig, dass die Tiere jetzt gut gefüttert werden, damit sie ordentlich Milch produzieren.

„Diese hier hat schon ordentlich aufgeeutert, die wird ihr Junges bald kriegen“, sagt die Fachfrau. Pralle Euter sind die einzigen äußerlichen Hinweise auf Trächtigkeit und sehr verlässlich. Denn dicke Bäuche sind unter dem dichten Vorhang langer Haare nicht ohne Weiteres erkennbar. Deshalb weiß Ute Pelka auch nicht, wie viele Tiere tatsächlich Nachwuchs erwarten. Es komme durchaus vor, dass noch ein Nachzügler geboren werde, wenn sie mit der Herde schon wieder draußen unterwegs sei, erzählt sie. Dramatisch sei das aber nicht, denn Schnucken-Geburten verliefen fast immer leicht und problemlos.

Wenn ihre Hilfe nötig ist, dann erst nach der Niederkunft. Weil das Junge zu schwach ist, um aufzustehen, zum Beispiel. So wie „Furzi“, das Zicklein, das zuerst nicht auf die Beine kam und mit Rotlichtlampe gewärmt, mehrfach der Mutter angelegt und schließlich mittels Kalziumspritze fit gemacht werden musste. „Jetzt trinkt es sehr gut“, sagt Ute Pelka und weist in mütterlichem Stolz auf den Winzling, der heftig mit dem Schwänzchen wackelnd am Gesäuge seiner geduldigen Mutter zieht.

Leider funktionieren die tierischen Instinkte nicht immer so, wie der Mensch sich das erhofft. Es gibt Schnucken, die – aus welchem Grund weiß niemand – ihren Nachwuchs nicht annehmen und ihn nicht an die Zitzen lassen. „Knickohr“ ist so ein bedauernswerter Verstoßener. Seinen Zwilling hat die Mutter anerkannt, ihn aber nicht. Und das, obwohl er sich kein bisschen von seinem Bruder unterscheidet – zumindest nach menschlichem Ermessen. So kam die kleine Sozialwaise in den Genuss eines Namens und der persönlichen Fürsorge Ute Pelkas. Viermal täglich bekommt das Lamm von ihr die Flasche, jeweils 300 Milliliter Flüssignahrung aus Milchpulver. „Das Milchpulver ist aus Kuhmilch gemacht. Es gibt zwar auch Schafsmilch, aber die ist zu teuer“, weiß die Schäferin.

Mit den finanziellen Aspekten der wenig einträglichen Schnucken-Haltung hat sie eigentlich nichts zu tun. Die Herde, die sie seit nunmehr zwölf Jahren hütet, hat nie ihr selbst gehört. Sie war und ist Angestellte. Seit Anfang 2014 hat die Herde einen neuen Besitzer und sie selbst einen neuen Chef, einen Deichschäfer aus dem Raum Stade. Sie genießt die fachliche Augenhöhe zum Vorgesetzten. Endlich gibt es einen, mit dem sie sich beruflich austauschen kann. Jemanden, der ihr einen Teil der Verantwortung und besonders unliebsame Arbeiten abnimmt.

Wie die, die jungen Böcke mit der Zange zu kastrieren. Sie müssen frühzeitig zu Hammeln gemacht werden, damit sie nicht etwa ihre eigenen Mütter schwängern. Schnucken sind nämlich sehr schnell geschlechtsreif. Damit Inzucht vermieden wird, sorgen fremde Böcke für die Fortpflanzung. Vier potente Träger gerollten Gehörns waren von September bis Mitte Januar in die Herde integriert. So ist sichergestellt, dass nicht womöglich 100 Lämmer auf einmal geboren werden, sondern über mehrere Wochen verteilt auf die Welt kommen. Das erste war am Valentinstag da, das letzte ist wohl erst im April zu erwarten.

Das Leben der allermeisten Jungen wird nur bis September dauern. Dann werden die Lämmer an Schlachter verkauft. Denn wertvoll an einer Schnucke ist nur das zarte Fleisch mit dem wildartigen Geschmack, der für manche eine Delikatesse ist und den andere gar nicht mögen. Das harte Haarkleid, das schon während der ersten Lebensmonate die lockige Struktur verliert und von Schwarz über Braun zu Grau wechselt, bringt nicht viel ein. Es taugt nicht als Wolle, sondern eignet sich allenfalls zur Produktion von groben Geweben und Teppichen.

Den Herbst überleben werden nur einige junge Zippen, die dazu bestimmt sind, die für ihre Aufgabe untauglich gewordenen Alttiere zu ersetzen. Wie lange Schnucken ihrer Weide-Pflicht gut nachzukommen vermögen, hängt vom Zustand ihres Gebisses ab. Spätestens nach sieben bis acht Jahren müssen sie Jüngeren Platz machen. Über das Ende der Schnucken entscheidet der Stader Chef.

Zum Glück, sagt Ute Pelka. Sie ist froh, nicht mehr Todgeweihte selektieren zu müssen. Schließlich ist sie nicht nur Schäferin, sondern auch selbst Mutter zweier erwachsener Kinder. Sie sorgt viel lieber dafür, dass das Leben ihrer Schutzbefohlenen ruhig und sicher beginnt und danach möglichst behütet verläuft. Hier im Stall und später auch draußen, auf der Heide.